Essen. 1,2 Millionen Deutsche leiden an Alzheimer. Ein früher Therapiebeginn kann das Zellsterben nicht aufhalten, aber die Symptome lindern.

Diese Krankheit macht Angst, weil sich das Gedächtnis nach und nach verabschiedet. Doch im Gegensatz zu den Denkfunktionen bleibt das „Gefühls-Ich“ bei Alzheimerpatienten lange erhalten, sagen Experten – und sehen zum Welt-Alzheimertag am 21. September 2016 einen Silberstreif am Therapiehorizont.

Ab welchem Alter kann man an der Alzheimer-Demenz erkranken?

Rund 1,2 Millionen Deutsche leiden laut der Alzheimer Forschung Initiative an der Alzheimerkrankheit. „Rund 80 Prozent bekommen diese Erkrankung als Folge des Alters ab etwa 65, etwa 20 Prozent auch in jüngeren Jahren – ein geringer Prozentsatz, nur etwa ein Prozent, infolge einer genetischen Vorbestimmung schon ab etwa 30“, sagt Professor Jens Wiltfang, Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsklinik Göttingen und Koordinator der Klinischen Forschung am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) am Standort Göttingen.

Was sind typische Symptome?

„Die Menschen sind zunächst ratlos und fragen sich, was mit ihnen passiert. Sie fühlen sich von den Ereignissen um sie herum überrollt“, das beobachtet Gerontopsychiater Privatdozent Dr. Jens Benninghoff, Chefarzt und Direktor der Klink für Allgemein- und Gerontopsychiatrie am Kreiskrankenhaus Gummersbach nahe Köln, bei seinen Patienten.

Den Titel des Kinofilms „Honig im Kopf“ mit Dieter Hallervorden findet Professor Wiltfang in diesem Zusammenhang passend: Es sind Veränderungen, die sich wie zähe Tropfen einschleichen. Man kommt beim Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spielen nicht mehr mit, fühlt sich wie benommen. Fährt rückwärts mit dem Auto in die Waschanlage. Kann sich nicht gut konzentrieren, hat Schwierigkeiten, das Zifferblatt einer Uhr nachzuzeichnen und weiß das richtige Wort für Schlüssel nicht mehr.

„Merkfähigkeitsstörungen und Gedächtnisprobleme können allerdings auch Anzeichen für eine gut behandelbare Depression sein“, sagt Psychiatrieprofessor Wiltfang. „Nur jeder Zweite, der im kognitiven Bereich beeinträchtigt ist, entwickelt tatsächlich eine Demenz, und davon ist wiederum nur jede zweite eine Alzheimererkrankung.“ Deshalb sollte man sich nicht unnötig in Ängste hineinsteigern, wenn Gedächtnisstörungen auftreten, sondern sich an eine spezialisierte Ambulanz wegen einer Diagnose wenden, rät Chefarzt Jens Benninghoff, der auch Präsident der MAGDA (Multiprofessionelle Arbeitsgruppe Demenzambulanzen) ist, einem Zusammenschluss von in Demenzambulanzen tätigen Klinikern.

Wie wird die Erkrankung diagnostiziert?

„Am Anfang steht ein ausgiebiges Gespräch, also eine Anamnese, am besten gemeinsam mit dem Lebenspartner oder den Kindern“, erklärt Gerontopsychiater Benninghoff. Der Grund: „Die ältere Generation hat gelernt, sich vor Fremden gut darzustellen. Daher ist es besser, wenn die Patienten von Angehörigen ermuntert werden, ihre Erinnerungsschwierigkeiten nicht zu verschweigen“, sagt Professor Wiltfang.

Die Experten wünschen sich, dass Hausärzte mit Gedächtnisambulanzen zusammenarbeiten. Denn häufig fallen die Anzeichen der Alzheimerkrankheit den Allgemeinmedizinern als Erstes auf. Sie können die Patienten nach einfachen Suchtests für vertiefte Untersuchungen an die Ambulanzen überweisen und übernehmen meist später auch wieder die Versorgung im Alltag. „Es ist wichtig, dass die Zusammenarbeit in der Anfangsphase startet, solange die Menschen noch selbst wichtige Entscheidungen treffen können – in dieser Zeit lässt sich die Entwicklung der Krankheit auch gut eine Zeit lang einfrieren“, erläutert Benninghoff.

Sind sich Experten unsicher, ob sie es mit Alzheimer zu tun haben, können sie sich mit bildgebenden Verfahren oder Untersuchungen des Nervenwassers Gewissheit verschaffen. Professor Ralf Gold, Direktor der Universitätsklinik für Neurologie im St. Josef-Hospital Bochum, ergänzt: „Darüber hinaus sind in den letzten Jahren sogenannte PET Untersuchungen mit Nachweis von Amyloid im Gehirn mittels kurz radioaktiver Bindungspartner entwickelt worden, die allerdings sehr aufwendig sind. Wichtig ist eine einmalige breite Labordiagnostik zum Ausschluss anderer Ursachen wie Schilddrüsenfehlfunktion, Lebererkrankungen, Vitaminmangel, chronische Infektionen des Nervensystems etc.“

Was geschieht danach – welche Therapien gibt es heute?

Das kommt auf die Diagnose an. „Wir stellen oft eine sogenannte Mischdemenz fest, das heißt, es gibt zusätzlich gefäßbedingte Faktoren, gegen die der Patient bei Vorliegen von Risikofaktoren selbst etwas unternehmen kann“, erklärt Professor Wiltfang. Das bedeutet: den Blutdruck gut einstellen (lassen), sich mehr bewegen, abnehmen und mit dem Rauchen aufhören. Der Speiseplan sollte zugunsten mediterraner Kost umgestellt werden. „Lesen, tanzen und singen kann schützend wirken und die Symptome lindern“, sagt Chefarzt Benninghoff.

Beide Experten sind sich darin einig, dass der Musik eine Schlüsselrolle zukommt: „Sie erreicht die Menschen über eine Art Einflugschneise in ihrem ‚Gefühls-Ich‘, auch wenn das ‚kognitive Ich‘ sich schon Stück für Stück verabschiedet hat“, beschreibt Jens Wiltfang den Vorgang, und Jens Benninghoff findet im Hinblick auf die medikamentöse Behandlung weitere Bilder: „Wir können die Ausprägung der Demenz nur verlangsamen, nicht aufhalten. So als würde man sich mit Sandsäcken gegen ein Hochwasser stemmen. Aber das kann Angehörigen sehr helfen, weil viele Alzheimerpatienten dann für ihre Angehörigen besser erreichbar bleiben.“

Zurzeit gibt es noch keine Medikamente, die das Absterben von Nervenzellen ausbremsen, also deren Vergiftung verzögern. Es stehen aber Medikamente zur Verfügung, die die Symptome der Alzheimerdemenz abschwächen können. Benninghoff: „Auch Gedächtnisambulanzen können diese Medikamente verordnen und so das Budget der Hausärzte entlasten.“

Wo steht die Forschung, welche Therapien sind vielversprechend?

Für die Alzheimertherapie der Zukunft gibt es laut Psychiatrieprofessor Jens Wiltfang zwei wichtige Ansatzpunkte: Enzyme hemmen, die zu den typischen Eiweißablagerungen (Amyloid-Plaques) der Erkrankung führen, und das Immunsystem gegen giftige Stoffwechselprodukte stärken, wobei dann im Gehirn Antikörper gegen die anfangs noch löslichen Giftstoffe zur Verfügung stehen.

Wiltfang: „So könnte verhindert werden, dass diese Giftstoffe die Nervenzellen schädigen.“ Aktuelle Veröffentlichungen in renommierten Fachzeitschriften wie „Nature“ zu möglicherweise geeigneten Wirkstoffen wie Solanezumab (US-Pharmakonzern Eli Lilly) oder Aducanumab (US-Biotechfirma Biogen) geben Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Wiltfang: „Diese Wirkstoffe müssen in den kommenden Jahren erweisen, was es für die Gedächtnisleistung bringt, wenn sie früh eingesetzt werden.“