Berlin. Stress ist Gift für den Körper. Diese Meinung herrscht seit langer Zeit vor. Einige Mediziner vertreten da eine ganz andere Theorie.

Wer ein gesundes und langes Leben führen will, der sollte am besten vitaminreich und ausgewogen essen, Stress vermeiden, immer ausreichend schlafen, am besten keinen Alkohol trinken und auch noch Sport treiben. Richtig?

Von wegen! Zu gesund ist gar nicht so gesund. Sagen zumindest einige Experten und schwören auf diese Theorie: Was uns nicht umbringt, macht uns stärker. Oder in Fachsprache: das Hormesis-Prinzip. Was dahinter steckt, erklärt Prof. Dr. Bernd Kleine-Gunk, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Anti-Aging Medizin (GSAAM).

Was ist Hormesis?

Prof. Dr. Bernd Kleine-Gunk: Es hat entgegen vieler Vermutungen nichts mit Hormonen zu tun. Die Wörter teilen sich lediglich denselben griechischen Wortstamm. Hormãn heißt antreiben. Es steckt der Ansatz ,Was uns schadet, ist gut für uns, wenn es nicht in zu hohen Dosen daherkommt’ dahinter.

Vieles in der Medizin beruht auf dem Hormesis-Prinzip, allerdings hat man es früher nicht so benannt. Saunieren oder intermittierendes Fasten sind beispielsweise alles Dinge, die unseren Körper unter Stress setzen und an sich gar nicht gesund sind. Gesund ist erst die Antwort unseres Körpers darauf. Es geht bei der Hormesis-Theorie nicht nur um das Altern. Es ist auch eine prophylaktische Maßnahme gegen viele andere Erkrankungen – auch gegen Krebs.

Was soll Hormesis bewirken?

Kleine-Gunk: Hormesis bewirkt, dass die eigenen Reparatur- und Abwehrmechanismen stimuliert werden. Früher hieß es in der Anti-Aging-Medizin noch, man solle hochdosierte Vitamine nehmen, denn sie galten als Freie-Radikale-Fänger. Doch Studien zeigen, dass diese hochdosierten Vitaminpräparate nichts bringen.

Der Grund: Man fängt zwar alle freien Radikale direkt ab, aber dadurch wird der Körper entlastet und fährt seine eigenen Antioxidantien nicht mehr hoch. Das ist langfristig eher kontraproduktiv. Mit hochdosiertem Vitamin E bekommt man nicht weniger Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, sondern sogar eher mehr.

Warum nichts zu essen gesund sein kann

Wieso dreht sich plötzlich alles um Hormesis?

Kleine-Gunk: Es gibt neue Erkenntnisse. Vieles kommt dabei aus der Anti-Aging-Medizin. Dort hat man die das Prinzip der Kalorienrestriktion untersucht – also nichts zu essen. Vom Einzeller bis hin zum Primaten hat man herausgefunden, dass das lebensverlängernd wirkt.

Wie kann das sein?

Kleine-Gunk: Ganz einleuchtend ist das erst einmal nicht, denn nichts zu essen ist ein Stressfaktor für den Körper. Wenn man es übertreibt, dann verhungert man. Nun wurde jedoch herausgefunden, dass durch die Kalorienrestriktion im Körper so genannte Langlebigkeitsenzyme stimuliert werden, die Sirtuine. Die reparieren die DNA, was vor Alterungsprozessen schützt und uns länger leben lässt.

Was sind Sirtuine genau und wofür sind sie gut?

Kleine-Gunk: Sirtuine sind Enzyme, die durch alle möglichen Stressreize stimuliert werden können. Auch durch Nahrungsmittel. Ein großer Trend sind „Sirt-Foods“. Lebensmittel, die Sirtuine stimulieren, beispielsweise Brokkoli, Chili, Kohl, Beeren oder Knoblauch. Sirtuine betreiben im wesentlichen DNA-Reparatur. Denn chronische Schäden an unserer Erbsubstanz lassen uns altern oder auch Krebs entstehen.

Sie sprachen auch von dem positiven Effekt der Kalorienrestriktion. Wie sollte die Kalorienrestriktion aussehen?

Kleine-Gunk: Die gibt es in verschiedenen Varianten. Eine besteht darin, die durchschnittliche tägliche Kalorienmenge um zirka 30 Prozent zu reduzieren. Eine andere – von Professor Huber bevorzugt – besteht im ,Dinner Cancelling’, also im Ausfallenlassen der Abendmahlzeit. Am effektivsten ist aber wohl das intermittierende Fasten, weil hier der hormetische Reiz am intensivsten ist.

Den Körper kurz, aber richtig an die Schmerzgrenze bringen

Wann ist Sport dem Prinzip nach richtig effektiv?

Prof. Dr. Bernd Kleine-Gunk, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Anti Aging Medizin (GSAAM).
Prof. Dr. Bernd Kleine-Gunk, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Anti Aging Medizin (GSAAM). © GSAAM e.V | GSAAM e.V

Kleine-Gunk: Der Effekt kommt erst zum Schluss, wenn der Muskel schon richtig wehtut. Dass ein Bodybuilder Muskelkater bekommt, hat damit zu tun, dass winzige Verletzungen in seinen Muskelfibrillen entstehen. Diese werden vom Körper repariert und auch überkompensiert. So entstehen mehr Muskeln. Das gilt auch für den Ausdauersport. Zunächst wird der Metabolismus hochgefahren, man verbrennt mehr Energie und setzt damit auch mehr freie Radikale frei. Freie Radikale lassen uns eigentlich altern. Der Körper registriert das jedoch und fährt seine eigenen so genannten anti-oxidativen Enzymsysteme hoch, mit denen er sich gegen die freien Radikale wehrt. Diese Reaktion des Körpers ist gesund. Am Effektivsten ist es, den Körper kurz, aber richtig an die Schmerzgrenze zu bringen. Dadurch entsteht ein Stressreiz und die Kompensationsmechanismen werden besonders gut stimuliert.

Aber wie erkenne ich das richtige Maß?

Kleine-Gunk: Das ist etwas, was man schwer sagen kann. Es gibt zwar allgemeine Faustregeln, aber letztendlich muss es jeder in Absprache mit seinem Arzt herausfinden, was für einen selbst gut ist.

Beim Sport hängt es beispielsweise stark vom Trainingszustand ab. Jemand, der trainiert ist, kann einen Triathlon absolvieren, ohne sich besonders zu schädigen. Beim Alkohol weiß man: Es ist ein Gift, aber ein bis zwei Gläser Wein für eine Frau oder zwei bis drei Gläser für einen Mann am Tag sind noch gesundheitsfördernd. Die Hormesis-Kurve verläuft J-förmig. Zunächst geht sie runter – in dem Bereich ist alles schadensminimierend. Dann geht sie jedoch schnell wieder bergauf – in den schadensfördernden Bereich.

Wie sieht es in der Hinsicht mit Strahlung aus?

Kleine-Gunk: Es wurde lange Zeit befürchtet, dass Menschen, die in Kernkraftwerken arbeiten, durch die Strahlung häufiger an Krebs erkranken als andere. Deshalb gehören Beschäftigte von Kernkraftwerken wahrscheinlich zu den am besten untersuchten Menschen auf der Welt. Alle Studien haben bis jetzt gezeigt, dass diese Arbeiter weniger häufig an Krebs leiden als andere. Die geringe Strahlung, die dort vorherrscht, hat den Studien zufolge einen hormetischen Effekt und schützt sogar eher.

Die Studien werden aber oft angezweifelt …

Kleine-Gunk: Auch wer im Hochgebirge lebt, bekommt mehr Hintergrundstrahlung mit als andere, und auch dort gibt es keine höheren Krebsraten als anderswo – eher im Gegenteil.

Und wie sieht es mit Röntgenstrahlen aus?

Kleine-Gunk: Diese große Hysterie von vermehrter Röntgenstrahlung ist eher übertrieben. Da kann man etwas lockerer in die nächste Untersuchung gehen.

Gibt es sonst etwas, das nach dieser Theorie besonders schädlich ist?

Kleine-Gunk: Es ist ein Gesamtprogramm. Es läuft nicht darauf hinaus, dass man eine Vitaminpille oder ein Hormon schluckt. Es läuft auf einen hormetischen Lebensstil hinaus. Dieser besteht im Wesentlichen daraus, dass man nicht die ganze Zeit im Schongang durchs Leben geht und Stress vermeidet, sondern Stress viel mehr gezielt einsetzt. Unsere Reaktion darauf ist primär positiv – solange man es nicht übertreibt. Aber man muss seinem Körper auch die Möglichkeit geben darauf zu reagieren. Letztendlich ist alles eine Frage der Dosierung.

Gibt es weitere Nachteile in Hinblick auf das Thema Hormesis?

Kleine-Gunk: Das Ganze zu übertreiben, sodass man in den Bereich kommt, in dem es schädlich wird. Wenn ich statt zwei Gläsern Wein sechs oder sieben Gläser trinke, dann ist da kein positiver Effekt mehr. Mit Sport verhält es sich ähnlich. Sport kann auch krank machen, indem man übertrainiert. Dann geht das Immunsystem den Bach runter.

Kann man denn beispielsweise zu viel Alkohol oder Sport wieder kompensieren?

Kleine-Gunk: Wichtig ist es, dem Körper in einer Ruhephase die Zeit zu geben, die Reparaturmechanismen vorzunehmen. Auch Bodybuilder, die beispielsweise in einer Trainingseinheit die eine Muskelpartie besonders trainiert haben, widmen sich in der nächsten einer anderen – oder pausieren.

Es ist die Kunst der Hormesis, nicht immer gleichmäßig auf einem Level zu bleiben, sondern den Körper zu stressen und ihm dann Ruhe für die Reparatur- und Überkompensation zu geben.