Berlin. Bei den Mädchen sind sogar 29 Prozent auffällig. Das muss nicht in eine Magersucht oder Bulimie münden. Experten sind dennoch alarmiert

Zwei Brötchenhälften. Ohne das weiche Innere – das war eingewickelt in ein Taschentuch in der Hosentasche verschwunden. Dazu ein bisschen Diätketchup und Tee mit Süßstoff. Portioniert, akribisch abgewogen. Das war das Frühstück von Birte Jensen vor wenigen Jahren. Da war sie 16, hatte sich von 72 auf weniger als 46 Kilogramm heruntergehungert. Die Ahnung von Sterben war in ihren ausgemergelten Körper gekrochen. Aus einer Diät war Magersucht geworden, Anorexia nervosa.

Die Magersucht ist eine von drei Hauptformen der Essstörung. Auch Bulimie und die Binge-Eating-Störung, bei der die Betroffenen große Mengen Nahrung zu sich nehmen, gehören dazu. Laut der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1), für die das Robert-Koch-Institut (RKI) umfangreiche Gesundheitsdaten erhoben hat, sind 1,5 Prozent der Frauen und 0,5 Prozent der Männer betroffen. Hinzu kommen etwa doppelt so viele Menschen mit einer Essstörung, die nicht eindeutig einer der drei Hauptformen zugeordnet werden kann.

29 Prozent der Mädchen zeigen gestörtes Essverhalten

In den Statistiken sind Essstörungen eine seltene Erkrankung. Doch diese Zahlen bilden nur die extremsten Fälle ab, die gerade bei der Magersucht immer wieder auch tödlich enden. Eine weitere Erhebung des RKI (Kinder- und Jugendgesundheitssurvey KiGGS) zeigt eine ganz andere statistische Größe: Mehr als ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen zwischen elf und 17 Jahre zeigt Symptome einer Essstörung. Bei den Mädchen sind es sogar rund 29 Prozent.

„Essstörungen sind zwar selten, Auffälligkeiten dagegen relativ häufig“, bestätigt Dr. Kathrin Schuck vom Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit an der Ruhr-Universität Bochum. Auffällig sei etwa chronisches Diätverhalten, die Einteilung von Lebensmitteln in gute und schlechte, Figur- und Gewichtssorgen, Ablehnung des eigenen Körpers, exzessiver Sport, aber auch unkontrolliertes Essen.

Krankheit beginnt meist in Kindes- und Jugendalter

„Wenn Essen nicht mehr dazu dient, satt zu werden, sondern sich die Gedanken stattdessen darum drehen, welche Auswirkungen das Essen auf den Körper haben könnte, sollten Eltern aufmerksam werden“, sagt Angelika Weigel, die am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) in der Arbeitsgruppe für Essstörungen zur Prävention und Frühintervention bei Essstörungen forscht. Komme zum problematischen Essverhalten ein belastendes Ereignis hinzu – die erste unerwiderte Liebe, Ärger mit den Eltern –, könne das zu einer Essstörung führen.

Welche Mechanismen genau die Betroffenen krank machen, hat die Wissenschaft noch nicht ganz verstanden. Sicher ist, dass die Krankheit meist in der Kindheit oder Jugend beginnt und Frauen weitaus häufiger betroffen sind als Männer. Besonders solche, die einen hohen Grad an Perfektionismus aufweisen und gleichzeitig ein geringes Selbstwertgefühl haben. Es gibt außerdem ein Modell, das sich auf psychische Erkrankungen allgemein anwenden lässt. Das sogenannte Vulnerabilitäts-Stress-Modell. Es geht davon aus, dass jeder Mensch individuelle Verletzlichkeiten aufweist. Werden die Belastungen so groß, dass eine Schwelle überschritten wird, entwickelt er Symptome.

Eine Essstörung ist also weit mehr als das Streben nach dem perfekten Körper. Sie kann der Wunsch nach Anerkennung sein, oder der Weg, um Probleme zu lösen. „Eine Essstörung hat immer auch die Funktion, mit als negativ oder unangenehm erlebten Gefühlen umzugehen“, erklärt Psychotherapeutin Angelika Weigel.

10.000 Kalorien mit einer einzigen Mahlzeit

Menschen mit Bulimie oder einer Binge-Eating-Störung reagieren auf die Sorgen des Lebens mit Essanfällen. Innerhalb kurzer Zeit nehmen sie sehr große Mengen Nahrung zu sich. 2000 bis 3000 Kalorien im Schnitt, bis zu 10.000 in extremen Fällen. „Danach fühlen sich die Betroffenen schuldig, sind voller Scham, Ekel und Selbstvorwürfe“, weiß Dr. Kathrin Schuck.

Auch bei Birte Jensen hat die Magersucht die Sorgen des Alltags aus dem Blickfeld geräumt. „Sie hat die Leere in meinem Tag ausgefüllt“ – so beschreibt sie die Stimme in ihrem Kopf, die sie unerbittlich mahnte. „Ich musste mich nicht mehr mit Kummer auseinandersetzen. Denn in meinem Kopf gab es nun sie. Sie, die alles andere neben dem eigentlichen Ziel, abzunehmen, unwichtig erscheinen lässt“, schreibt die heute 20-jährige Studentin in ihrem Buch („Das Leben ist nicht extra small“, Schwarzkopf & Schwarzkopf). Heute ist die Stimme verstummt. Birte Jensen hat mit Hilfe eines Therapeuten gelernt, auf sich und ihre Bedürfnisse zu achten. „Kommen schlechte Gedanken, die jeder einmal hat, kann ich sie heute anders beantworten“, sagt sie.

Quälte den Körper über die Grenze des Erträglichen

Auch das ist bei Essstörungen relevant: das westliche Schönheitsideal, omnipräsent einerseits, unerreichbar andererseits. Als bei Birte Jensen die Kilos weniger wurden, bekam sie Lob. Für ihr gutes Aussehen, für ihre Disziplin. Das trieb sie immer weiter. 45,9 Kilogramm, das Sitzen schmerzte, weil kein Fett die Knochen mehr schützte, längst kaufte sie in der Kinderabteilung ein. Weiter, mahnte die Stimme.

Auch in anderen Bereichen stellte Birte Jensen die höchsten Anforderungen an sich. Am Abend ließ die Stimme sie nicht schlafen, bevor das Zimmer nicht aufgeräumt war. Und obwohl Birte Jensen ihren Körper über die Grenzen des Erträglichen hinaus quälte, waren ihre Noten in dieser Zeit so gut wie nie. „Anorexie ist eine sehr ambivalente Erkrankung“, sagt Schuck. „Die Erkrankten ziehen auch Positives daraus: ‚Ich bin stark, ich kann mich kontrollieren‘ – das macht die Krankheit so schwer zu behandeln.“

Streben nach Perfektion oft die Ursache

Auch die sozialen Medien tragen zum Streben nach Perfektion bei. „Es gibt Snapchat, Facebook, Instagram. Egal, wie ich mich verändere, es gibt eine Bewertung von anderen“, sagt Angelika Weigel. Die Wissenschaft hat das Pro­blem erkannt und Präventionsprojekte entwickelt. Jugendliche sollen für die sozialen Medien und den Umgang mit Kommentaren sensibilisiert werden. „Kinder, die heute heranwachsen, lernen so wenige andere Quellen für ihren Selbstwert kennen als die äußere Erscheinung.“

Angelika Weigel erzählt von einem Projekt zum Thema Essstörungen in nahezu 20 Hamburger Schulen. Die Schüler sollten ihre Idealvorstellung von Mann und Frau beschreiben. Die waren eindeutig: der Mann größer als die Frau, kurze Haare, muskulös, ein Gentleman. Die Frau kleiner als der Mann, lange geschmeidige Haare, die Brüste eine gute Handvoll, die Hände zart. „Wir haben sie dann gefragt, was dadurch besser würde“, erzählt Weigel. Sie hatten die Hoffnung, dass sie glücklich werden.

• Hilfe für Betroffene und Angehörige:

www.bzga-essstoerungen.de