Sartène. Im April blickt die Insel Korsika auf das Städtchen Sartène. Seine Karfreitagsprozession mit einem verhüllten Büßer gibt Rätsel auf.
Barfuß und ganz in Rot gekleidet, schreitet der Mann über das kalte Kopfsteinpflaster der Rue Joseph Tafanelli. Seinen Körper verhüllt eine Kutte, die Hände stecken in Wollhandschuhen, Kopf und Gesicht sind unter einer Stoffmaske verborgen. Mit seinem rechten Arm umklammert er das 34 Kilogramm schwere, eisenbeschlagene Eichenholzkreuz auf seinen Schultern, mit der linken Hand die Gesichtsmaske, zieht Sehschlitze und Nasenlöcher zurecht.
Mit jedem Schritt schleift der „Catenacciu“, der Kettenträger, wie die Einheimischen den Büßer nennen, eine Eisenkette an seinem Fußgelenk über den Boden, vorbei an den Spalier stehenden Pilgern, geleitet von den Herren der religiösen Bruderschaft in weißen Gewändern und roter Schärpe.
Roter Büßer ist die Attraktion der Karfreitagsprozession
Manche tragen eine Laterne in der Hand, einer hält ein Kreuz über seinem Kopf. Ihre tiefen Stimmen schallen durch die Kopfsteinpflastergasse, mischen sich mit dem Rasseln der Eisenkette. Dann bricht der Catenacciu zusammen. Ein Raunen geht durch die Menge, ein Mädchen fängt an zu weinen. Im Laternenlicht der Nacht hallt der monotone Bußgesang weiter durch die düstere Gasse.
Seit dem 16. Jahrhundert ist der rote Büßer die Attraktion der Karfreitagsprozession, der ältesten Tradition in dem korsischen Städtchen Sartène. „Wer sich barfuß bei fünf Grad Celsius mit bleiernem Gewicht durch unsere Gassen quält, mit einer Maske auf dem Kopf, unter der man nichts sieht, kaum atmen kann und schwitzt, der will Vergebung“, sagt Pierre Camille Sampieri.
Mehrere Karfreitagsprozessionen auf Korsika
Der ehemalige Präsident der „Confrérie“, der Bruderschaft Compagnia del Santissimo Sacramento, die alle religiösen Feste in Sartène organisiert, spricht aus Erfahrung. Karfreitagsprozessionen gibt es in mehreren Orten auf der Insel, den Catenacciu jedoch nur in Sartène. Hier ist der österliche Bußgang am authentischsten, am spektakulärsten.
Sartène, das Bergstädtchen mit 3500 Einwohnern im Südwesten der Insel Korsika, schmiegt sich wie eine überdimensionale Trutzburg in die grünen Abhänge des Monte Rosso. Gen Westen blickt man hinab auf die Eichenwälder um das fruchtbare Tal des Flusses Rizzanèse bis zum Mittelmeer, gen Osten auf die Gebirgslandschaft Alta Rocca. Im Mittelalter lebten hier reiche Feudalherren. Sie bauten Hunderte von mehrstöckigen Granithäusern kreuz und quer in die verwinkelte Altstadt. Treppen und schattige Gassen führen seitdem bergauf, bergab durch den bescheidenen Ort.
Ladenbesitzer bieten frische Kräuter feil
Wer hier heute lebt, hat an den Ostertagen aber keinen Blick für die landschaftliche Schönheit. Fensterläden bleiben dann tagsüber verschlossen, auf Balkonen und in den Hauseingängen flackern Grabkerzen. Auf dem Place Porta, dem zentralen Platz, auf dem im Sommer oft Open-Air-Konzerte stattfinden, spielen Kinder. Deren Mütter sitzen in einem der Cafés gegenüber dem Rathaus und der Kirche Santa Maria Assunta, in der in der restlichen Zeit des Jahres das Kreuz und die Kette des roten Büßers hängen.
In der Rue des Frères Bartoli drapiert ein Ladenbesitzer sein Angebot: frische Myrthe, Thymian und die korsischen Canistrelli-Kekse. Nebenan stellen Restaurantinhaber erste Tische und Stühle in die schmale Gasse. Ein verschlafenes Nest.
Früher war der Ort die Hochburg der Blutrache
Das war nicht immer so. Noch im 19. Jahrhundert war Sartène die Hochburg der „Vendetta“, der Blutrache. Zahlreiche Clans waren miteinander verfeindet, Familien des reichen Altstadtviertels Santa Anna bekämpften Familien des ärmeren Borgo. Selbstjustiz stand an der Tagesordnung.
Mag sein, dass manch einer dieser Bluträcher zum Catenacciu wurde. Noch heute ist der offizielle Bußgang an Karfreitag, der den Kreuzweg Jesu nachstellt, heiß begehrt, die Teilnahme ein Traum vieler Sartènais. Sogar aus Australien und Neuseeland gab es schon Interessenten.
Identität des Büßers bleibt geheim
„70 Bewerbungen liegen uns vor“, erzählt Monsieur Sampieri und fährt fort: „Davon kommen 20 Männer infrage, denn nur die sind im richtigen Alter, zwischen 40 und 60 Jahren, gläubig, haben genug Lebenserfahrung und die Kraft, das schwere Kreuz zu tragen, und dazu noch etwas Schlimmes verbrochen. Im religiösen Sinne, versteht sich.“
Totschlag, Diebstahl, Vergewaltigung oder doch nur ein besonders frommer Wunsch? Immer wieder heizen Spekulationen über das Motiv des Büßers die Stimmung an. Es sei mal einer dabei gewesen, der wollte mit dem Bußgang sein behindertes Kind heilen, behaupten die Einheimischen. Monsieur Sampieri weiß es besser: „Vor Jahren hatten wir einen Büßer, der war erst 25 und hatte schon zwei Selbstmordversuche hinter sich. Nach dem Bußgang war das vorbei.“ Wie auch heute noch blieb die Identität des Mannes ein Geheimnis.
Priester des Franziskanerklosters wählt Büßer aus
„Wer der Catenacciu ist, der durch die Anonymität der Maske symbolisch für alle Menschen steht, und wo er herkommt, das weiß nur der Priester unseres Franziskanerklosters Saint Come et Damien. Und der schweigt wie ein Grab. Er wählt den Büßer aus, betreut ihn an mehreren Tagen vor und nach der Prozession in spiritueller Abgeschiedenheit in einer der Mönchszellen des Konvents. Rund 20 Jahre muss ein Bewerber derzeit auf seine Einladung warten“, ergänzt Paul Quilichini.
Für den gläubigen Bürgermeister, der hier aufwuchs und neben seinem Amt eine Baufirma und eine Weinproduktion leitet, ist das ganz selbstverständlich.
Zurückversetzt in vergangene Zeit
Wenn sich am Karfreitag um 21.30 Uhr die Tore der Kirche Santa Maria Assunta öffnen, der Catenacciu, in der Farbe königlicher Würde gekleidet und gestützt vom Priester und dem korsischen Bischof, auf den Place Porta tritt und seinen zwei Kilometer langen, über zwei Stunden andauernden Rundparcours durch das Gassengewirr startet, wenn er auf dem Wege dreimal fällt, dann fühlt sich jeder Besucher zurückversetzt in längst vergangene Zeiten.
Dabei hilft ein weißer Büßer, der „Reine“, dem Catenacciu beim Tragen des Kreuzes, so wie der Feldarbeiter Simon von Cyrene damals Jesus half. Und es helfen acht schwarz gekleidete „Bösartige“, die eine hölzerne Jesusfigur auf einem Leichentuch schultern. Zudem 5000 Neugierige, die sich am Wegesrand aufreihen, von den Balkonen zuschauen oder stillschweigend aus den Fenstern blicken. Ergriffen von der unheimlichen Stimmung und der überzeugenden Darbietung.
Die Zukunft der Tradition liegt in den Händen der Jugend
Auch wenn Sartène heute von lokaler Landwirtschaft lebt, kann es Einnahmen aus dem Tourismus gut gebrauchen. Doch mit der Vermarktung des spektakulären Osterbrauchs tut man sich schwer.
„Jeder, der zusehen möchte, ist natürlich herzlich eingeladen, zur Catenacciu-Prozession zu kommen. Aber es geht hier nicht um eine Show, sondern um Glaube und Religion. Und das soll auch so bleiben“, sagt Bürgermeister Quilichini bestimmt. Und Pierre Camille Sampieri fügt hinzu: „Ich hoffe, dass unsere Jugend diesen Schatz fortbestehen lässt. Die Zukunft des Catenacciu liegt in ihren Händen.“
Tipps & Informationen
Anreise: zum Beispiel mit Air France nach Ajaccio. Von dort aus fahren mehrmals täglich Busse in zwei Stunden nach Sartène.
Unterkunft: Das Hotel Des Roches bietet Zimmer mit Balkon, eine große Terrasse mit Blick auf den Golf von Valinco und ein hervorragendes Restaurant (DZ ab 81 Euro). Wer lieber am Meer unterkommen möchte, ist zum Beispiel im Hotel Le Golfe in der Bucht von Porto-Pollo bestens aufgehoben (Doppelzimmer ab 165 Euro).
Pauschal: Gebeco hat Sartène im Rahmen einer achttägigen Korsika-Erlebnisreise im Programm (ab 1495 Euro, Tel. 0431/544 67 31). Bei Wikinger Reisen steht die Stadt während einer 15-tägigen Wanderreise durch den Inselsüden auf dem Plan (ab 1998 Euro, Tel. 02331/90 47 42).
Auskunft : Atout France
(Die Reise der Autorin wurde unterstützt von Atout France.)