Berlin. Viele spülen Arzneimittel die Toilette hinunter. Dann landen Wirkstoffe in Seen und Flüssen. Dort können sie aber zum Problem werden.

Als die Großmutter stirbt, stoßen die Angehörigen beim Entrümpeln der Wohnung auf eine gut sortierte Hausapotheke. Pillen gegen Halsschmerzen, Nasenspray, Brandsalben, blutdrucksenkende Mittel und jede Menge Wärmepflaster, Verbandsmaterial, Wundeinlagen.

Über Jahre hat die alte Dame sich einen sehr großen Vorrat an unterschiedlichsten Medikamenten und Medizinprodukten zugelegt. Vieles scheint noch in Ordnung zu sein, das Haltbarkeitsdatum ist längst nicht abgelaufen. Doch wohin mit den Restbeständen?

Problem Trinkwasser

Auf keinen Fall in die Toilette oder in den Ausguss kippen, sagen Experten. Denn: Die Medikamente landen in der Kanalisation und in den Kläranlagen. Viele Stoffe, die in den Arzneien stecken, können nicht aus dem Abwasser herausgefiltert werden – und gelangen dann in Flüsse und Seen.

Wasser sei immer im Kreislauf zu sehen, sagt Martin Weyand, Hauptgeschäftsführer Wasser/Abwasser beim Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft. „Alles, was wir irgendwann hineinkippen, kommt wieder zu uns zurück.“

Pflanzen und Tiere werden geschädigt

Die Folgen sind fatal. Pflanzen und Tiere werden geschädigt. Bestimmte Stoffe sorgen beispielsweise für eine „Verweiblichung“ männlicher Fische in Flüssen unterhalb von Kläranlagenausläufen und stören die Fortpflanzung der Tiere. Auch der Mensch ist langfristig betroffen, wenn sich nichts ändert. Über die genauen Folgen ist bisher nur wenig bekannt.

Experten wie Weyand appellieren an die Verbraucher, alte Medikamente oder Überbleibsel von Arzneimitteln in den Restmüll zu geben, der in der Regel verbrannt wird. Je nach Kommune und Landkreis können die Präparate auch bei Wertstoffhöfen abgegeben werden. Die sorgen dann dafür, dass die Mittel fachgerecht entsorgt werden.

Nur 15 Prozent entsorgen alte Medikamente richtig

Was einleuchtend klingt, ist knapp der Hälfte der Bevölkerung offenbar nicht klar. In einer Umfrage des Instituts für sozial-ökologische Forschung in Frankfurt kamen die Experten zu dem Ergebnis, dass 47 Prozent der Befragten flüssige Medikamente über die Toilette oder Spüle loswerden. Nur 15 Prozent entsorgen ihre Arzneien immer richtig, heißt es in der Studie von 2014.

Die Bundesregierung will diese Wissenslücke schließen und hat dazu die Webseite arzneimittelentsorgung.de geschaltet. Für alle Landkreise und kreisfreien Städte liegen Angaben vor, wo und wie die Präparate entsorgt werden können.

Mit neuer Klärstufe würde Trinkwasser teurer

Das Umweltbundesamt berichtet von bislang 150 Arzneimittelwirkstoffen, die vor allem in Gewässern nachgewiesen wurden – etwa von Schmerzmitteln wie Diclofenac oder von Hormonpräparaten wie der Anti-Baby-Pille.

In der Wissenschaft wie auch in der Politik wird diskutiert, ob in Kläranlagen das derzeitige dreistufige Reinigungsverfahren um eine vierte Stufe erweitert werden soll. Die Trinkwasseraufbereitung würde dann aber spürbar teurer werden.

Noch gibt es kein allgemein anerkanntes technisches Verfahren, um Arzneirückstände herauszufiltern. Techniker und Wissenschaft experimentieren mit Aktivkohle, Hybridkieselgel, mit UV-Bestrahlung oder mit einer Begasung durch Ozon.

Die Rolle der Apotheken

Von 1994 bis 2009 gab es noch ein bundesweit einheitliches Sammelsystem, das eine kostenfreie Rückgabe in Apotheken garantierte. Heute gilt: Apotheken sind nicht mehr verpflichtet, alte Medikamente zurückzunehmen. Aber: „Wir übernehmen Verantwortung für die Versorgung von Arzneimitteln und wir helfen bei der Entsorgung von Medikamenten“, sagt Stefan Derix, Geschäftsführer der Apothekerkammer Nordrhein.

Konkret sollten Verbraucher Apotheker oder Ärzte um Rat fragen, wie Arzneimittel zu entsorgen sind, falls es nicht auf dem Beipackzettel vermerkt ist. Nicht in die Restmülltonne gehören Krebsmedikamente (Zytostatika) sowie bestimmte Hormonpräparate und Virustatika (virushemmende Medikamente).

Experte: „Medikamentenwelle“ rollt auf uns zu

Wasserexperte Weyand vermutet, dass der demografische Wandel das Problem verschärfen wird. Er spricht von einer Medikamentenwelle, die auf uns zurollt. Mit der Überalterung der Gesellschaft steigt auch der Bedarf an Arzneimitteln. Schmerz- oder Herzmittel gehören dazu, aber auch Insulin gegen Diabetes, Salben gegen Hautkrankheiten.

Dass sich die Probleme bei der fachgerechten Entsorgung der Arzneimittel künftig verstärken könnten, vermutet auch Derix. Er fordert finanzielle Hilfen, falls sich der Gesetzgeber einschaltet und die Apotheken stärker in die Pflicht nimmt. Ein Rücknahmeservice sei langfristig für viele Betriebe zu aufwendig und teuer.

Man kann Arzneien spenden

Arzneien, die noch genutzt werden können, müssen nicht zwangsläufig im Müll landen. Einige Hilfsorganisationen nehmen Medikamentenspenden an – allerdings nur mit Einschränkungen. Zum Beispiel die Jenny-De-la-Torre-Stiftung in Berlin, die sich um Obdachlose kümmert.

Voraussetzung für die Annahme ist meist, dass die Arzneien mindestens noch ein halbes Jahr lang haltbar sind und nicht benutzt wurden. Also: Eine geöffnete Flasche Nasentropfen nimmt die Organisation nicht an, wohl aber verpackte Kopfschmerztabletten. Auch noch verschlossene Pflaster oder Mullbinden können bei der Stiftung abgegeben werden. Psychopharmaka oder spezielle Medikamente lehnt die Hilfsorganisation ab.

Spender sollten zuerst nachfragen, welche Arzneien überhaupt gebraucht werden. Denn auch die Organisationen können nicht Präparate in großen Mengen lagern. Vor Ort überprüfen die Helfer den Zustand der verschiedenen Medikamente.