Berlin. Eine neue App will mit Tüv-Siegel bei der Verhütung helfen. Experten warnen, dass dabei am Ende eine Überraschung herauskommen kann.

Samstagmorgen, zu zweit im Bett, der Tag ist frei. Ein schlaftrunkener Blick auf das Smartphone verrät: Heute ist kein Kondom nötig, kein Diaphragma und auch sonst keine Verhütung. Also sorgenfreier Sex? Natürlichen Schutz vor ungewollten Schwangerschaften und zwar ohne Hormone, das versprechen viele sogenannte Verhütungs-Apps. Darunter auch die erste vom Tüv Süd als Medizinprodukt zertifizierte Smartphone-Anwendung „Natural Cycles“, die ein Physiker-Pärchen aus Schweden entwickelt hat.

Doch ganz so reibungslos funktioniert das System nicht, urteilen Experten. Sie raten Frauen, sich nicht auf Apps zu verlassen, um einer ungewollten Schwangerschaft vorzubeugen – eine Zertifizierung ändere daran nichts.

Nobelpreis-Gewinnerin entwickelte den Algorithmus

„Good Morning“ grüßt ein Schriftzug auf dem lila-weißen Thermometer, das Kundinnen von „Natural Cycles“ gratis bekommen, wenn sie für 5,40 Euro pro Monat ein Jahresabo für die App abschließen. Für die Methode, auf die das digitale Verhütungsmittel baut, sei es unerlässlich, weil es zwei Stellen nach dem Komma anzeige, erklärt der Hersteller auf seiner Internetseite. Es misst die Körpertemperatur, übermittelt den Wert an das Smartphone, und ein ausgeklügelter Algorithmus berechnet darauf basierend, ob die Frau verhüten muss oder nicht.

Das statistische Schema entwickelte Elina Berglund, die an der nobelpreisgekrönten Entdeckung des Higgs-Teilchens beteiligt war, mit ihrem Mann. Es soll auch berücksichtigen, dass Spermien in der Gebärmutter bis zu zwei Tage überdauern und eine Eizelle auch dann noch befruchten können. Ihre App sei ebenso sicher wie die Pille, bewirbt Berglund ihre Erfindung selbstbewusst. Die Methode der Temperaturmessung ist allerdings alles andere als neu und zur Verhinderung von Schwangerschaften höchst umstritten.

App ist weniger streng beim Messen

Nach dem Eisprung steigt bei Frauen die Körpertemperatur bis zur nächsten Regelblutung aufgrund der hormonellen Veränderung um etwa 0,2 Grad an. So lassen sich die etwa sechs fruchtbaren Tage pro Monat grob bestimmen. Dafür muss „die Frau jeden Morgen noch vor dem Aufstehen möglichst immer zur gleichen Zeit ihre Temperatur messen – unter der Zunge, in der Vagina oder im After, und immer mit derselben Methode“, erklärt Christian Albring, Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzte. Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) funktioniert diese sogenannte sympto­thermale Methode nur, wenn zusätzlich in den Tagen um den Eisprung die Beschaffenheit des Gebärmutterschleims geprüft wird.

Ganz so streng ist „Natural Cycles“ mit seinen Nutzerinnen nicht. „Versuche es an fünf Tagen in der Woche zu schaffen, deine Temperatur zu messen“, rät das englischsprachige Erklärvideo im Internet. Bis die App dann tatsächlich verlässliche Ergebnisse anzeige – also Grün für „nicht fruchtbar“ oder Rot für „heute verhüten“ – könne es „ein paar Wochen dauern“. Erst dann habe sich der individuelle Zyklus verfestigt.

System biete kaum Sicherheit

Zur Familienplanung sei diese Methode durchaus geeignet. Um Schwangerschaften zu verhindern, sei sie zu unsicher und spontaner Sex nahezu unmöglich, sagt Albring: „Für junge Frauen bis etwa 18 Jahren ist die Temperaturmessung grundsätzlich nicht zuverlässig genug.“ Aber auch danach biete das System kaum Sicherheit. „Die Körpertemperatur steigt bereits leicht an, wenn man länger ausschläft, vor dem Temperaturmessen bereits aufsteht oder Sex hat, später ins Bett geht, abends noch Sport macht, Alkohol trinkt, eine Infektion hat, unter Stress leidet und schlecht schläft, große Anstrengungen bewältigen muss oder auf Reisen ist“, so Albring.

Warum also bekam die App vom Tüv Süd eine Zertifizierung als Medizinprodukt? „Weil sie den rechtlichen Vorgaben entspricht“, erklärt Thomas Oberst vom Tüv Süd, „unsere Zertifizierung beinhaltet keinen Vergleich mit anderen Verhütungsmethoden oder Verhütungsmitteln.“

Zertifikat verrät wenig über Zuverlässigkeit

Um die bekannte CE-Kennzeichnung tragen zu dürfen, prüft eine von der EU befugte Stelle das Qualitätsmanagement, die technische Dokumentation, die Übereinstimmung mit rechtlichen Vorgaben sowie eine klinische Bewertung des Herstellers – so auch in diesem Fall. „Zykluscomputer oder Zyklusrechner funktionieren nach einem vergleichbaren Prinzip und sind bereits seit den 1980er Jahren auf dem Markt“, erklärt Oberst. Sie seien nach dem gleichen Verfahren zertifiziert worden.

„Dieses Zertifikat sagt aber nichts aus über die Zuverlässigkeit und Sicherheit einer Methode“, sagt Albring. Für die klinische Bewertung reichte „Natural Cycles“ zwei Studien ein. Für die im European Journal of Contraception & Reproductive Health Care veröffentlichte Untersuchung zur Wirksamkeit erhoben die Hersteller Daten von 4054 Probandinnen zwischen 20 und 35, die die App alle bereits benutzten. Allerdings stiegen bereits nach fünf Monaten ganze 34 Prozent dieser Frauen aus – sie wurden in die Auswertung laut Studie nicht einbezogen.

Wer sich an App hielt, durfte selten Sex haben

„Die beiden Hauptgründe für den Ausstieg der Frauen waren entweder, dass sie keine Routine beim regelmäßigen Messen der Temperatur bekamen oder, dass die App ihnen aufgrund ihrer Eingaben zu viele rote, also fruchtbare, Tage angegeben hatte“, sagt die Referentin des Berufsverbandes der Frauenärzte, Susanna Kramarz.

Teilweise habe die Anzahl dieser Tage bei weit über 50 Prozent gelegen, einige Paare hätten an ganzen 24 Tagen des Monats auf Sex verzichten oder anderweitig verhüten müssen. Unter den Probandinnen, die sich streng daran hielten, gab es kaum ungeplante Schwangerschaften. Hochgerechnet auf ein ganzes Jahr ergab sich daraus ein ähnlicher Schutzfaktor wie für die Pille – damit wirbt „Natural Cycles“ nun.