München. CSU-Chef Seehofer fordert Konsequenzen nach der Axt-Attacke von Würzburg – gerade auch für Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen.

„Deutschland, wohin?“ – das ist der Titel einer Interviewreihe dieser Redaktion. Unsere Redakteure sprechen mit den Vorsitzenden der maßgeblichen Parteien über die teilweise beunruhigenden Entwicklungen in Deutschland und der Welt. Den Auftakt bildet CSU-Chef Horst Seehofer, mit dem wir vor dem Attentat von München sprachen.

Der Axt-Angriff von Würzburg ist der erste Terroranschlag auf deutschem Boden, zu dem sich der IS bekennt. Kann der Staat die Bevölkerung vor solchen Tätern schützen?

Horst Seehofer: Das war eine brutale Bluttat, die einen fassungslos zurücklässt. Die totale Sicherheit gibt es nicht. Trotzdem müssen wir alles Menschenmögliche tun, um die Bürger noch besser zu schützen. In Bayern werden wir die Polizeipräsenz erhöhen und die Beamten besser ausstatten. Wir brauchen eine viel stärkere Videoüberwachung, auch von Bahnhöfen und Zügen. Außerdem müssen wir die rechtlichen Grundlagen schaffen für eine effektive Zusammenarbeit zwischen Nachrichtendiensten und Polizei – national wie international.

Der Attentäter, angeblich 17 Jahre alt und aus Afghanistan, ist erst vor einigen Monaten nach Deutschland gekommen. Hat der Flüchtlingszustrom die Terrorgefahr erhöht?

Seehofer: Ich möchte zwischen der Zuwanderungsfrage und dem schrecklichen Anschlag sauber trennen. Keiner wird so umfassend betreut und versorgt wie die unbegleiteten Minderjährigen, die zu uns kommen. Trotzdem kann es solche wahnsinnigen Taten geben. Unabhängig davon muss man die objektiven Herausforderungen benennen, die wir bei der Zuwanderung haben ...

... nämlich welche?

Seehofer: Wir brauchen eine Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung. Eine Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr darf nicht überschritten werden. Nur dann schaffen wir Unterbringung, Finanzierung, Integration und Sicherheit. Außerdem brauchen wir eine strikte und wirksame Kontrolle unserer Grenzen. Wir müssen wissen, wer in unser Land einreist und wer sich bei uns aufhält. Wir müssen diese Personen eindeutig identifizieren. Ich möchte, dass diese Aufgabe endlich an den Außengrenzen der Europäischen Union erfüllt wird, damit wir unsere Binnengrenzen nicht mehr kontrollieren müssen. Bisher hat die EU bei den Grenzkontrollen versagt. Hunderttausende Flüchtlinge sind unkontrolliert nach Deutschland gekommen.

Lassen sich diese Kontrollen nicht nachholen?

Seehofer: Die Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern müssen sich die Flüchtlinge genauer anschauen, damit sich solche schlimmen Dinge wie in Würzburg nicht wiederholen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat lange Zeit mit einem Formblatt gearbeitet. Jeder konnte ankreuzen, was er gerade für richtig hielt. Wir brauchen bei der Aufnahme eine persönliche Anhörung, und bei bestimmten Personen muss man beim Registrierungsverfahren die Sicherheitsbehörden hinzuziehen. Ich will keinen Generalverdacht aussprechen. Aber wir müssen Zuwanderer in Deutschland stärker kontrollieren und überwachen. Wir müssen uns sicher sein, dass keine Verbindungen zum „Islamischen Staat“ bestehen. Die Bevölkerung erwartet vom Staat, dass er sie schützt. Dafür müssen alle rechtsstaatlichen Mittel ausgeschöpft werden.

Europa hat die Türkei zu einem wichtigen Partner in der Flüchtlingskrise gemacht. Seit dem niedergeschlagenen Militärputsch wachsen die Zweifel, ob das so schlau war.

Seehofer: Ich unterstütze die Vereinbarung, die Flüchtlinge in der Türkei auch mithilfe der EU zu versorgen. Solche Abkommen brauchen wir auch mit afrikanischen Staaten. Ich bin aber entschieden dagegen, dass man solche Drittstaatenvereinbarungen verknüpft mit Themen, die mit der eigentlichen Migrationsfrage nichts mehr zu tun haben. Den Teil des Türkeiabkommens, der eine Beschleunigung der Beitrittsverhandlungen vorsieht, halte ich für grundfalsch.

Plädieren Sie für einen Abbruch der Verhandlungen?

Seehofer: Wenn man sieht, wie die Türkei nach dem gescheiterten Militärputsch den Rechtsstaat abbaut, müssen diese Verhandlungen sofort gestoppt werden. Und was gerade unter Sicherheitsaspekten auch nicht geht: Es darf keine vollständige Visafreiheit für türkische Staatsbürger in der EU geben.

Damit kündigen Sie faktisch den Flüchtlingspakt auf.

Seehofer: Unbeschränkte Visafreiheit käme einem Import der innertürkischen Probleme nach Deutschland gleich. Das darf es nicht geben. Wir können nicht die Zuwanderungsfrage um den Preis lösen, dass wir massive neue Probleme bei uns in Deutschland heraufbeschwören.

Ist die Türkei noch ein demokratischer Staat?

Seehofer: Ich kann das im Augenblick nicht erkennen. Erdogan hat in wenigen Tagen fast 50.000 Personen aus dem Verkehr gezogen – aus dem Militär, aus der Justiz, aus den Hochschulen. Missliebige Richter werden abgesetzt. So handelt kein demokratischer Rechtsstaat.

Wie stellen Sie sich die nächste Begegnung zwischen Kanzlerin Merkel und dem türkischen Präsidenten Erdogan vor?

Seehofer: Ich bin immer dafür, dass der Gesprächsfaden nicht abreißt, aber die Bundesregierung muss jetzt Klartext sprechen. Wir verlangen von der Türkei, dass sie die Aufarbeitung des Putschversuchs rechtsstaatlich betreibt. Wenn das in den nächsten Wochen nicht erfolgt, kann man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.

Die verstörende Weltlage hat manches in den Hintergrund treten lassen, auch den Streit in der Union. In dieser Woche haben Sie ein weiteres Gespräch unter vier Augen mit Angela Merkel geführt. Reicht die Einigkeit für einen gemeinsamen Bundestagswahlkampf?

Seehofer: Wir haben seit dem vergangenen September die schwierigsten Monate in der Geschichte von CDU und CSU durchlaufen. Unser Treffen in Potsdam war ein guter Start zu einer neuen Epoche, aber wir sind noch lange nicht am Ziel, auch nicht nach dem Vieraugengespräch im Kanzleramt. Dort sind wir einen großen Schritt vorangekommen. Ob es ein gemeinsames Wahlprogramm geben wird, ist aber noch nicht entschieden.

Gab es neuen Streit?

Seehofer: Das Gespräch ist sehr konstruktiv und vernünftig verlaufen. Wir haben viele Einzelpunkte abgearbeitet. Im Wahlkampf reicht es nicht, wenn wir sagen: Deutschland steht gut da. Die Leute wollen wissen: Wohin wollt Ihr dieses Land führen? Mich hat sehr gefreut, dass die Kanzlerin schon in Potsdam gesagt hat: Alles, was wir überlegen, fußt auf dem christlichen Menschenbild.

Alles andere wäre überraschend in einer christlichen Partei. Unterstützt die Kanzlerin auch die Steuerreform der CSU?

Seehofer: Klar ist doch: Die Steuerquellen der öffentlichen Hand sprudeln nach wie vor. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen, die kleinen und mittleren Einkommen zu entlasten. Wir wollen unseren progressiven Steuertarif abflachen – und zudem ein Baukindergeld von 1200 Euro im Jahr einführen. Damit ermöglichen wir Familien mit kleinen Kindern, Wohneigentum zu erwerben. Insgesamt streben wir eine Entlastung um 10 bis 15 Milliarden Euro an.

Finanzminister Schäuble ist da vorsichtiger.

Seehofer: Wir haben einen steuerpolitischen Stillstand in Deutschland. Wir müssen endlich kleine und mittlere Einkommen – also die Leistungsträger unserer Gesellschaft – entlasten. Wir werden auch keiner Erbschaftsteuerreform zustimmen, die auf eine Steuererhöhung hinausläuft. Und im nächsten Jahrzehnt wollen wir die stufenweise Abschaffung des Solidaritätszuschlags.

Wann genau läuft der Soli aus?

Seehofer: Je weiter wir von der deutschen Einheit weg sind, desto größer ist das Risiko, dass der Soli verfassungswidrig wird. Er beträgt jetzt 5,5 Prozent von der Steuerschuld. Wir wollen den Soli in elf Schritten abschaffen. Damit wäre das Ziel 2030 erreicht.

Das klingt nicht besonders ehrgeizig. Machen Sie Steuererleichterungen zur Koalitionsbedingung?

Seehofer: Wir müssen bei der Wahl 2017 so stark werden, dass nicht gegen uns regiert werden kann – und dass wir uns den Koalitionspartner aussuchen können. Wer mit uns regieren will, muss wissen: Die Union wird die Menschen von Steuern entlasten.

Spricht das eher für die SPD oder für die Grünen?

Seehofer: Vergessen Sie die FDP nicht. Wenn die Union bis zur Bundestagswahl im Schulterschluss marschiert, sind mehr als 40 Prozent möglich. Und dann kann es auch wieder für Schwarz-Gelb reichen. Die FDP ist mir immer noch der liebste, wenn auch unbequeme Koalitionspartner.

Ist es klar, dass Merkel noch einmal als Kanzlerkandidatin von CDU und CSU antritt?

Seehofer: Wir schätzen die Arbeit der Kanzlerin sehr, auch wenn wir in der Zuwanderungsfrage einen Disput hatten. Über die Frage der Kanzlerkandidatur entscheiden wir – genauso wie über den Spitzenkandidaten der CSU – aber erst im nächsten Jahr. Jetzt haben wir erst mal Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin, dann küren wir den nächsten Bundespräsidenten, und anschließend kommt mit der NRW-Wahl eine kleine Bundestagswahl. Die Klugheit gebietet, Schritt für Schritt vorzugehen.

Wir halten fest: Die CSU unterstützt nicht automatisch eine vierte Amtszeit von Angela Merkel.

Seehofer: Ich sage zum jetzigen Zeitpunkt dazu nicht mehr.

In der CSU wächst der Wunsch, dass Sie 2018 für eine weitere Amtszeit in Bayern kandidieren. Sind Sie grundsätzlich dazu bereit?

Seehofer: Diese Frage ist jetzt nicht aufgerufen. Im Moment habe ich zwar den Eindruck, dass die Partei sich eine weitere Amtszeit von mir wünscht. Aber solche Stimmungen verändern sich auch. Im Herbst kann es schon wieder ganz anders aussehen.

Wonach wird entschieden?

Seehofer: Wir marschieren mit dem Personal, das den meisten Erfolg verspricht. Natürlich darf man dem Herrgott nicht ins Handwerk pfuschen. Es hängt auch mit der Gesundheit zusammen, ob man für ein Amt kandidieren kann.

Fühlen Sie sich fit?

Seehofer: Ja, absolut. Im Moment besonders. Es ist geradezu eine Freude, diese Ämter auszufüllen, obwohl sie einiges abverlangen.

Ministerpräsident von Bayern – das schönste Amt der Welt?

Absolut. Ohne jede Einschränkung.