Berlin. Migranten attackieren Frauen. Hooligans „jagen“ Menschen in Köln. Deutschland steht in der Flüchtlingskrise vor einem Wendepunkt.

Die sexuellen Attacken von Köln sind auf der anderen Seite des Atlantiks angekommen. Die „Los Angeles Times“ kommentiert: „Das Pendel schlägt um.“ Aus Sicht der „Huffington Post“ droht das Vertrauen der Deutschen in den Kurs Angela Merkels „zu erodieren“. Und in der „New York Times“ schreibt der konservative Kolumnist Ross Douthat unter der Überschrift „Deutschland auf der Kippe“: Um politische Gewalt wie in den 30er-Jahren zu verhindern, müsse Deutschland sofort umsteuern. „Das bedeutet, dass Angela Merkel gehen muss.“ Damit Deutschland und Europa nicht einen zu hohen Preis für „ihren wohlmeinenden Wahnsinn“ zahlen müssen.

Das letzte Mal, dass sich die Amerikaner so intensiv mit Deutschland beschäftigten, war zur Zeit der Wiedervereinigung. Das ist mehr als 25 Jahre her. Allein das zeigt, welche Bedeutung die Ereignisse von Köln haben.

Die sexuellen Attacken wurden fast ausschließlich von Migranten verübt

Sind Köln und die Folgen der Wendepunkt in der Flüchtlingskrise? Ist sogar der innere Frieden in Gefahr?

Der ehemalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) glaubt, dass das so ist: „Die Vorgänge in Köln am Silvesterabend und die damit verbundene Verunsicherung der Bevölkerung lassen für den sozialen Frieden Schlimmeres befürchten als viele heute wahrhaben wollen“, sagt der Vizechef der Unionsfraktion unserer Redaktion. „Wenn jetzt die unkontrollierte Zuwanderung nicht gestoppt wird, ist der soziale Friede in Gefahr.“

Ähnlich sieht das Heinz Buschkowsky (SPD), ehemaliger Bürgermeister des Berliner Bezirks Neukölln und bekannt als Integrationsexperte. „Ich sehe nicht, dass der soziale Frieden in Gefahr ist, aber es könnte auf den Weg dorthin kommen“, sagt Buschkowsky unserer Redaktion.

Fest steht: Die sexuellen Attacken in der Silvesternacht wurden fast ausschließlich von Migranten verübt. „Vieles spricht dafür, dass es Nordafrikaner wie Menschen aus dem arabischen Raum waren“, sagte Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger (SPD). Die Polizei hält die massenhaften Übergriffe nicht für abgestimmt oder geplant. Bisher gibt es 553 Strafanzeigen, in etwa 45 Prozent der Fälle geht es unter anderem um Sexualdelikte. In Hamburg wurden bisher 153 Anzeigen aufgenommen, die mit Attacken auf Frauen an Silvester zu tun haben.

Ein Syrer und ein Afghane beschimpfen und berauben einen Juden

Zudem gibt es jetzt auch einen Übergriff auf einen Juden: Auf der Ostseeinsel Fehmarn beschimpften, bedrängten und beraubten zwei Flüchtlinge einen Mann aus Frankreich. Das Opfer ist 49 Jahre alt, trug eine Kippa, womit er als Jude erkennbar war, wie die Polizei berichtet. Ein Syrer, 30, und ein Afghane, 19, rissen den Mann zu Boden und stahlen ihm seine Tasche. Polizisten nahmen die Männer vorübergehend fest. Ihnen war wegen fehlender Papiere die Einreise nach Dänemark verweigert worden.

Auf der anderen Seite nutzen gewaltbreite Rechtsextreme die Ereignisse von Köln, um Vergeltung zu üben. So gingen in der Nacht zu Montag Hooligans, Türsteher und Rocker in Köln auf Migranten los. Zwei Pakistaner und Syrer wurden verletzt. Die Polizei sprach 199 Platzverweise aus. „Das sind Taten von Menschen, die meinen, sie müssten das Recht in die eigene Hand nehmen“, sagte Polizeidirektor Michael Temme. Laut „Express“ hatten sich die Rechtsextremen auf Facebook verabredet, um „auf Menschenjagd“ zu gehen. Sie wollten mal „ordentlich aufräumen“. Am Sonnabend wurde eine Pegida-Demonstration in Köln aufgelöst, weil Hooligans Böller und Flaschen auf Polizisten geworfen hatten. Die Polizei in der Dom-Stadt will jetzt verstärkt auf Streife gehen.

„Es darf keine No-Go-Areas in deutschen Städten und Gemeinden geben“

Die Deutschen Städte, das unterscheidet sie von vielen Metropolen weltweit, sind lebenswert. Wandeln sie sich gerade? Werden sie Gebiete, die man in der Nacht und besser auch am Tag nicht aufsuchen sollte?

Auch die Kommunen sind besorgt. „Die Ereignisse rund um die Silvesternacht in Köln, aber ebenso die – offensichtlich als Reaktion darauf erfolgten – Übergriffe auf Syrer und Pakistaner in Köln sind deutliche Alarmsignale“, sagt Gerd Landberg, Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebunds, dieser Zeitung. Wenn Bürger den Eindruck hätten, dass bestimmte öffentliche Orte nicht mehr sicher sind, müsse dringend gehandelt werden. „Es darf keine No-Go-Areas in deutschen Städten und Gemeinden geben.“

Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund sieht die Ereignisse von Köln mit Sorge. „Inakzeptable Ereignisse wie in Köln dürfen nicht der Anlass sein, die positive Gesamtstimmung in der Bevölkerung gegenüber den Flüchtlingen kaputtzureden“, sagt DGB-Chef Reiner Hoffmann dieser Zeitung. „Deutschland wird nicht zu einer Bananenrepublik, weil in einigen Städten etwas geschehen ist, was absolut nicht tolerierbar ist.“ Die deutschen Gesetze würden für alle gelten. Kriminelle müssten bestraft werden – egal ob sie Zuwanderer seien oder Deutsche. „Wir müssen klare Kante zeigen, auch gegen Deutsche, die Flüchtlingsunterkünfte angreifen“, so Hoffmann. Der innere Friede aber sei nicht in Gefahr.

Ein Gefühl der Wehrlosigkeit und Verwundbarkeit

Köln ist nicht Paris. In der französischen Hauptstadt wurden 130 Menschen von Kämpfern des „Islamischen Staates“ (IS) getötet. Und doch haben die Ereignisse in der Stadt am Rhein die Deutschen getroffen. Und ihnen ein Gefühl der Wehrlosigkeit und Verwundbarkeit gegeben.

Dieses wird dadurch genährt, dass die Polizei möglicherweise Erkenntnisse zurückgehalten hat. NRW-Innenminister Jäger musste am Montag noch einmal betonen, dass es keine Schweige-Anweisung an die Polizei gegeben habe. Zudem warf er der Kölner Polizeiführung „gravierende Fehler“ vor. „Das Bild, das die Kölner Polizei in der Silvesternacht abgegeben hat, ist nicht akzeptabel.“

Angst vor Übergriffen wie in Köln am eigenen Wohnort

All das führt auch dazu, dass das Vertrauen in die Polizei schwindet. 39 Prozent der Deutschen sind laut einer Emnid-Umfrage der Meinung, dass die Polizei keinen ausreichenden Schutz bietet. 49 Prozent befürchten, dass Übergriffe wie in Köln am eigenen Wohnort stattfinden könnten.

„Wir haben eine verunsicherte Bevölkerung“, sagt sogar Grünen-Chef Cem Özdemir. Es ist soweit, dass sogar der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer vor Schwarz-Weiß-Malerei beim Thema Flüchtlinge warnt: Dem Thema werde man nur mit Differenziertheit gerecht, so der CSU-Chef.