Berlin. Bundespräsident trifft Can Dündar, den Ex-Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet. Damit stärkt er Erdogan-Kritiker.

Can Dündar kennt die Symbolkraft solcher Treffen: „Die Einladung war ein sehr wichtiges Signal, nicht nur für uns als Journalisten, die unter Druck stehen und zensiert werden, sondern auch für die türkischen und deutschen Regierungen“, sagt der Ex-Chefredakteur der regierungskritischen türkischen Zeitung „Cumhuriyet“ nach seinem Gespräch mit Bundespräsident Joachim Gauck unserer Redaktion. „Es ist ein klares Signal an die, die im Gefängnis sind, dass sie nicht allein sind, dass Staatsmänner auf der obersten Ebene sich für sie interessieren.“

Die 90-minütige Begegnung im Schloss Bellevue nutzt der Journalist für klare Worte: Viele Journalisten und Politiker in der Türkei kämpften für Rechte und Werte, für Pressefreiheit, Demokratie und Menschenrechte. „Man muss diese Leute unterstützen und Solidarität zeigen. Es ist nicht nur eine türkische Angelegenheit, es geht um Werte und es betrifft Europa.“

„Cumhuriyet“ ist die wichtigste regierungskritische Zeitung des Landes

Am Abend wurde Dündar in Berlin auf dem Publisher’s Summit des Verbands Deutscher Zeitschriftenverleger mit der „Goldenen Victoria für Pressefreiheit“ ausgezeichnet.

Der im deutschen Exil lebende Journalist ist zur Symbolfigur geworden für den Kampf um die Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei: Nachdem die „Cumhuriyet“, die wichtigste regierungskritische Zeitung des Landes, über Waffenlieferungen der Türkei an Extremisten in Syrien berichtet hatte, wurden Dündar und Erdem Gül, Büroleiter der Zeitung in Ankara, der Spionage und des Geheimnisverrats angeklagt.

Prozess wurde mit großer Aufmerksamkeit im Ausland verfolgt

Drei Monate lang saßen sie in Untersuchungshaft, bevor das Verfassungsgericht des Landes ihre Freilassung anordnete. Der Prozess wurde mit großer Aufmerksamkeit auch im Ausland verfolgt. Dündar wurde zu fünf Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt. Er legte Berufung gegen das Urteil ein und floh nach Europa.

Gauck betonte, Dündar sei in Deutschland als Gast willkommen – und äußerte „erhebliche Sorge“ über die Entwicklung von Rechtsstaat und Pressefreiheit in der Türkei. Die Einladung sei ein Zeichen des Respekts für Dündars Engagement. Der Journalist kritisierte Teilnehmern zufolge die europäische Politik gegenüber Ankara. Europa habe es nicht geschafft, der Türkei eine Alternative zum System des autokratischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan aufzuzeigen. Dündar zeichnete bei der Unterredung ein „düsteres, aber auch differenziertes Bild“ der aktuellen Türkei, hieß es nach dem Gespräch. Ein großer Teil der Gesellschaft wolle eine moderne Türkei, betonte er. Diese Türkei brauche Unterstützung.

Journalist bedankte sich für die Einladung Gaucks

Ausdrücklich dankte der Journalist für die Einladung Gaucks und die Kritik von Kanzlerin Angela Merkelan an den Verhältnissen in der Türkei. Sie hatte jüngste Verhaftungen von Journalisten in der Türkei als alarmierend bezeichnet. Dündar hatte der Bundesregierung kürzlich vorgehalten, zu zögerlich auf die jüngsten Verhaftungen von Journalisten in der Türkei zu reagieren. In einem Interview machte Dündar klar, dass Journalisten in Bedrängnis sich eine solche Positionierung schon lange gewünscht hatten.

Der Geschäftsführer der Organisation Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr, der bei dem Treffen dabei war, sprach anschließend von einem „wertvollen Zeichen der Solidarität“ mit den vielen in der Türkei verfolgten Journalisten. Jetzt sei aber auch konkrete Unterstützung notwendig – zum Beispiel durch unbürokratische Nothilfe-Visa für akut bedrohte Journalisten. Gauck hatte schon bei seinem Türkei-Besuch im April 2014 von Demokratie-Defiziten in dem Nato-Land gesprochen und damit heftige Reaktionen Erdogans ausgelöst.

Rund 150 Medien wurden seit dem Putsch geschlossen

Dündars Fall ist der vielleicht prominenteste, bei Weitem aber nicht der einizige, in dem die Regierung gegen missliebige Stimmen vorgeht: Rund 150 Medien wurden seit dem Putsch im Juli und der anschließenden Verhängung des Ausnahmezustandes geschlossen, darunter viele, die der Gülen-Bewegung oder den Kurden im Südosten des Landes nahestehen. Und auch die „Cumhuriyet“ steht weiter im Fokus der Justiz: Vergangene Woche erst wurden Dündars Nachfolger als Chefredakteur, Murat Sabuncu, und weitere Redakteure der Zeitung festgenommen.

Bevorzugtes Instrument der Regierung ist dabei das Anti-Terror-Gesetz des Landes, das Terrorismus und auch die Propaganda für terroristische Organisationen sehr weit definiert. Nach Angaben der Organisation Reporter ohne Grenzen wurden allein im dritten Quartal dieses Jahres mehr als 100 Journalisten mithilfe dieses Gesetzes angeklagt.

Die Welle der Verhaftungen erfasste auch Oppositionsabgeordnete

Und es trifft nicht nur Journalisten: Die Welle der Verhaftungen in den vergangenen Wochen erfasste auch Oppositionsabgeordnete. So wurden auch zwölf Abgeordnete der pro-kurdischen HDP festgenommen, darunter die Parteivorsitzenden Figen Yüksekdag und Selahattin Demirtas. Die Immunität der meisten der insgesamt 59 HDP-Abgeordneten war im Mai aufgehoben worden.

Was Erdogan derzeit in der Türkei mache, sei eine „Gebrauchsanweisung zur Diktatur“, sagte Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz schrieb auf Twitter, mit den Festnahmen Samuncus und seiner Kollegen sei „eine weitere rote Linie“ übeschritten.