Athen/Berlin. Kanzlerin Merkel braucht die Türkei bei der Flüchtlingskrise – und Präsident Erdogan macht sich Hoffnungen auf einen EU-Beitritt.

Den schwarzen Mantel hochgeschlossen, die Stirn in tiefe Falten gelegt: So schreitet Kanzlerin Angela Merkel die militärische Ehrengarde in der türkischen Hauptstadt Ankara ab. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu läuft neben ihr, sein Blick ist ernst. Herzlichkeit sieht anders aus.

Der Türkei-Besuch am Montag Merkels war auch weniger ein Akt der Leidenschaft. Die Beziehungen sind eher zweckmäßig-kühl. Der Kanzlerin ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zu autoritär, zu rabiat. Insbesondere bei der Bekämpfung innenpolitischer Gegner überspannt der Sultan von Ankara, wie Erdogan auch genannt wird, den Bogen oft. Wegen des Mangels an Rechtsstaatlichkeit hatte Merkel der EU-Beitrittsperspektive lange Zeit einen Riegel vorgeschoben.

Erdogan entscheidet mit über Merkels politisches Schicksal

Doch das war vor der Flüchtlingskrise. Heute brauchen beide Regierungen einander. Die Kanzlerin betont immer wieder, die Türkei sei ein „Schlüsselland“ zur Eindämmung des nicht abebbenden Stroms an Migranten. Es ist Merkels größte politische Baustelle, die sie die Macht kosten kann. Überspitzt formuliert: Erdogan entscheidet mit über Merkels politisches Schicksal.

Die Kanzlerin war daher die treibende Kraft, als die EU vor ein paar Wochen mit der Türkei einen Aktionsplan vereinbart hatte. Merkels Hoffnung: Wenn die Überfahrten in die Ägäis gestoppt werden, sinken in Deutschland auch die Flüchtlingszahlen. Die Türkei solle ihre Außengrenzen besser schützen und vor allem gegen das blühende Schleuserwesen vorgehen, lautete der Plan. Dafür bekomme Ankara drei Milliarden Dollar aus Brüssel.

Die EU stellt Ankara Visafreiheit für türkische Staatsbürger in Aussicht

Doch nicht nur das. Die EU hat Ankara Visafreiheit für türkische Staatsbürger in Aussicht gestellt. Und plötzlich ist das Undenkbare denkbar: Die Türkei bekommt wieder einen Fuß in die Tür von EU-Beitrittsgesprächen. Und manchmal kann Pragmatismus auch ein freundliches Gesicht haben. Am Nachmittag traf Merkel Erdogan im Präsidentenpalast von Ankara. Zwischen Ölgemälden und goldenen Tapeten strahlte Merkel den starken Mann der Türkei an, der milde zurücklächelte.

Bislang sieht die Bilanz aber eher mager aus. Seit Jahresbeginn kamen bereits 68.000 Flüchtlinge aus der Türkei über die Ägäis zu den griechischen Inseln. Allein in den ersten sechs Februar-Tagen reisten 7.521 Menschen, drei Mal so viele wie im ganzen Februar 2015. Das soll sich nun ändern. Deutschland und die Türkei wollen im Kampf gegen die Schleuser, die jeden Tag tausende Migranten auf die lebensgefährliche Fahrt über die Ägäis schicken, schweres Geschütz auffahren: Kriegsschiffe der Nato sollen das Seegebiet zwischen der Türkei und Griechenland sichern. Mit einer engeren Zusammenarbeit der deutschen und der türkischen Polizei sollen illegale Grenz-übertritte bekämpft werden.

Brüssel nimmt der Türkei Kontingent-Flüchtlinge ab

Außerdem wird sich das deutsche Technische Hilfswerk an der Versorgung von Flüchtlingen an der türkisch-syrischen Grenze beteiligen. Der Weg der Flüchtlinge solle aber nicht illegal verlaufen sondern „kontrolliert, legal und von uns organisiert“, unterstrich Merkel. Eine Gruppe von EU-Staaten werde bald damit beginnen, der Türkei sogenannte syrische Kontingent-Flüchtlinge abzunehmen. „Wir können nicht von der Türkei auf der einen Seite erwarten, dass sie alles stoppt, und auf der anderen Seite sagen wir, über die Kontingente sprechen wir dann in einem halben Jahr“, sagte die Kanzlerin.

Mit der Türkei sei am Montag eine Arbeitsgruppe eingesetzt worden, damit in der kommenden Woche klar sei, wie die Aufnahme dieser Kontingent-Flüchtlinge organisiert werden könne, so Merkel. Die EU-Staaten hatte bereits beschlossen, syrische Flüchtlinge direkt aus der Türkei aufzunehmen, dies aber bisher nicht umgesetzt.

Menschenrechte sind nur ein Nebenthema

Die Menschenrechte waren am Montag allenfalls ein Nebenthema. Merkel sagte immerhin, sie habe mit Davutoglu auch über die Arbeitsbedingungen von Journalisten in der Türkei gesprochen. Deutschland habe große Hoffnung auf den Versöhnungsprozess mit Kurden und PKK gesetzt. „Man muss allerdings auch sagen, dass natürlich bei terroristischen Aktivitäten jedes Land auch das Recht hat, gegen Terrorismus vorzugehen“, so Merkel. Man spreche mit der Türkei sehr wohl über kritische Fragen. Gegenüber vor zwei oder drei Jahren habe sich aber auch die Problemlage geändert, sagte sie mit Blick auf den Syrienkrieg und illegale Migration.

In der türkischen Kurdenregion gab es erneut gewaltsame Ausschreitungen. Nach unterschiedlichen Angaben gab es in der umkämpften Stadt Cizre in der Nacht zu Montag zwischen 10 und 60 Todesopfer. Der staatliche Sender TRT berichtete zunächst, Sicherheitskräfte hätten bei einem Einsatz 60 Kämpfer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK getötet. Die Armee teilte am Montag mit, sie habe am Vortag zehn Kämpfer „eliminiert“. Nach Angaben der Streitkräfte wurden bei der Offensive gegen die PKK, die im Dezember begonnen hatte, bisher 733 PKK-Kämpfer getötet. Die eigenen Verluste beziffert die Armee seit dem Ende der Waffenruhe im Sommer 2015 auf mehr als 250 gefallene Soldaten. Türkische Menschenrechtsorganisationen sprechen außerdem von über 200 zivilen Opfern der Kämpfe.

Grünen-Chef Özdemir: Geld allein wird es nicht lösen

Aus der Opposition kam Kritik an Merkels Türkei-Visite. Grünen-Parteichef Cem Özdemir bezweifelte, dass die Milliarden für die Türkei den Flüchtlingsandrang nach Europa bremsen könnte. „Allein Bezahlen wird es nicht lösen“, sagte Özdemir. „Dazu gehört natürlich auch, dass die Türkei und Griechenland ihre Ressentiments beiseitelegen müssen. Das Schlepper-Unwesen ist ja Teil der türkischen Ökonomie.“

Die Linke-Fraktionschefin im Bundestag, Sahra Wagenknecht, warnte die Bundesregierung davor, sich in der Flüchtlingskrise von der Türkei erpressen zu lassen. Aus Sicht des FDP-Europapolitikers Alexander Graf Lambsdorff leistete Merkels Türkei-Reise keinen ernsthaften Beitrag zur Bewältigung der Krise. „Wiederholte Reisen in die Türkei sind kein Ersatz für eine eigene organisierte Flüchtlingspolitik der Bundesregierung“, sagte Lambsdorff.