Berlin. Studien und Einschätzungen von Experten belegen nun: Attentäter in Europa waren schon gewalttätig, bevor sie sich radikalisierten.

Ende Oktober 2016 stellt die Berliner Polizei Strafanzeige gegen Anis Amri. Das Delikt: unerlaubter Handel mit Kokain. Längst war Amri als Islamist auf dem Radar der Sicherheitsbehörden, sie hörten seine Gespräche ab. Über Anschlagspläne fanden sie nichts heraus. Dafür erfuhren sie mehr über Amris Drogengeschäfte. Der Tunesier verhalte sich konspirativ, schreiben die Beamten.

In den Protokollen der Telefonüberwachung, die unsere Redaktion einsehen konnte, spricht Amri vom „Garten“ und meint nach Ansicht der Polizei den Görlitzer Park. Er nennt die Drogen wahlweise „graues Haar“ oder „Blaue“. Einmal schreibt er seinem Komplizen, er werde sein Handy wechseln und in eine neue Wohnung ziehen. Amri hat längst gelernt, wie er sich am besten vor der Polizei versteckt.

Zwei Monate später ermordet Amri einen polnischen Lastwagen-Fahrer und rast mit dem Lkw in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Er und zwölf unschuldige Menschen sterben.

Sie verfügen über ein Netzwerk an Helfern

Amri ist kein Einzelfall. Immer wieder zeigt sich bei Dschihadisten, dass sie vor oder während ihrer Zeit als Extremisten kriminell waren – Ladendiebe, Bankräuber, Drogenhändler oder Betrüger. Amedy Coulibaly, der im Januar 2015 einen jüdischen Supermarkt in Paris mit einer Kalaschnikow überfällt, hatte eine lange Polizeiakte: fünf Raubdelikte, ein Drogendelikt.

Das gilt auch für die Attentäter im November 2015 in Paris und März 2016 in Brüssel. Die Brüder Saleh und Brahim Abdeslam wuchsen im Brüsseler Stadtteil Molenbeek auf und betrieben dort ein Café. Kurz vor dem Attentat in Paris ließ die Polizei das Café schließen. An der versperrten Eingangstür hängten die Beamten ein Schild auf: „Ort des Drogenkonsums“.

Der Fall Anis Amri -- Chronik eines Terroranschlags

weitere Videos

    Attentäter von Brüssel hatte schon vorher auf Polizisten geschossen

    Am Attentat in Brüssel im März 2016 waren die Brüder Ibrahim und Khalid al-Bakraoui beteiligt. Sie wuchsen in einem sozialen Brennpunkt im Nordwesten der Stadt auf. Khalid war schon 2009 aufgefallen, als er vier Autos stahl und eine Bank überfiel, bewaffnet mit einer Kalaschnikow. Bruder Ibrahim schoss 2010 bei einem Banküberfall auf einen Polizisten.

    Die al-Bakraouis mussten hinter Gitter. Nach einigen Jahren kamen sie frei, radikalisierten sich und entschlossen sich für den Terrorismus. Lange war das Bild des religiös motivierten Terroristen geprägt von den Attentätern des 11. September 2001 in New York: eine Clique von stark religiösen Extremisten, beauftragt vom Al-Qaida-Boss Osama bin Laden. Anführer des Terror-Kommandos war mutmaßlich Mohammed Atta, der sein Architekturstudium in Kairo absolviert und sich an der Technischen Universität in Hamburg-Harburg eingeschrieben hatte. Nachbarn und Studienfreunden fielen er und seine Komplizen nicht auf – und auch der Polizei fielen sie nicht auf.

    Behörden hatten Drogendealer nicht auf dem Schirm

    Auch heute gehören unauffällige Fanatiker zur Typologie des Terrors, Akademiker finden sich ebenfalls etwa unter den Ausreisenden in den Dschihad nach Syrien. Und auch eine Verbindung von Terror und Kriminalität ist nicht neu: So zeigen Untersuchungen, dass die islamistische Hisbollah in südamerikanische Drogenmärkte investierte, und die irische IRA Öl und Zigaretten schmuggelte. Doch Sicherheitsbehörden fällt auf: Die Zahl der Kleinkriminellen und Bandenbosse, der Ausgegrenzten und Gescheiterten unter den Extremisten steigt. Auch die deutschen Sicherheitsbehörden haben zu lange ausgeschlossen, dass ein Drogendealer trotz seiner „unislamischen Lebensweise“ auch ein Radikaler sein kann.

    Viele übertragen ihre Fähigkeiten der kriminellen Karriere einfach auf die neue Rolle als Dschihadist, sagen Experten. Sie haben gelernt, wie sie vor der Polizei untertauchen. Sie wissen, wie sie an Waffen und gefälschte Pässe kommen. Sie verfügen über ein Netzwerk an Helfern und halten Stresssituationen wie Verfolgung besser aus.

    „Was sie früher als Krimineller benötigen, hilft ihnen auch als Terrorist“, sagt Saad Amrani, Polizeichef der Brüsseler Gemeinde Ixelles, dieser Redaktion. Und Studien legen nahe, dass Terror-Anführer und Schwerkriminelle neue Mitglieder für ihre Gruppen in denselben sozialen Milieus rekrutieren. Die Formen der Verbrechen rücken näher zusammen. Amrani kennt die Lebensläufe vieler Dschihadisten.

    Viele Islamisten waren schon immer gewalttätig

    „Sie sind oft mit Gewalt im Umfeld aufgewachsen“, sagt er. „In ihrer Zeit als Kriminelle gehörten Auseinandersetzungen zum Alltag, und Machtkämpfe waren zentral.“ Häufig sei es nicht eine radikale Auslegung des Islams, die Menschen zu Gewalttätern mache, sagt Amrani. „Es ist mehr eine Person, die immer schon gewaltaffin gewesen ist, die irgendwann zum radikalen Islam findet.“ Der Terrorismus-Experte Peter Neumann stützt diese These mit einer Studie, für die Biografien von 79 europäischen Dschihadisten ausgewertet wurden. 45 von ihnen saßen vor ihrer Radikalisierung zwischen einem Monat und zehn Jahren in Haft. Gefängnisse können auch Orte für Fanatismus sein. So radikalisierten sich zwölf der 45 Inhaftierten erst hinter Gittern.

    Laut Neumann sind bis zu 40 Prozent der Anschläge in Europa zumindest in Teilen durch Kriminalität finanziert, etwa Drogenhandel und Raub. Die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) wirbt Kriminelle sogar gezielt an. Auf einem Foto auf Facebook steht ein junger Mann, schwarz gekleidet, mit Maschinenpistole auf dem Rücken. Dazu propagieren IS-Leute: „Manchmal schaffen die Menschen mit der schlechtesten Vergangenheit die beste Zukunft.“