Istanbul. Der Rächer Erdogan gibt sich gnadenlos. Zum Jahrestag des Putschversuches in der Türkei bringt der Präsident die Todesstrafe ins Spiel.

Keine Gnade für Putschisten – das ist die Botschaft von Staatschef Recep Tayyip Erdogan ein Jahr nach dem gescheiterten Staatsstreich. Erneut bringt der türkische Staatschef die Wiedereinführung der Todesstrafe auf die Tagesordnung – und entfernt sich damit immer weiter von Europa.

Erdogan weiß, wie er seine Anhänger begeistern kann. Mit markigen Worten wie diesen: Niemand dürfe ungestraft davonkommen, „wir werden diesen Verrätern die Köpfe abreißen“. Jubel brandet auf in der Menschenmenge, die sich an diesem Sonnabend an der Bosporusbrücke in Istanbul versammelt hat.

Mit Fausthieben Panzer stoppen

Hier stellten sich am späten Abend des 15. Juli 2016 Tausende Bürger den Putschsoldaten und ihren Panzern in den Weg. 36 Menschen bezahlten diesen Widerstand mit ihrem Leben. Die Bosporusbrücke heißt jetzt „Brücke der Märtyrer des 15. Juli“. „Es gibt keine andere Nation, die mit Fausthieben Panzer stoppt“, sagt Erdogan.

Putschversuch in der Türkei: Darum kommt das Land nicht zur Ruhe

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    Zahllose Menschen gedenken in der ganzen Türkei mit Versammlungen und „Demokratie-Wachen“ der Ereignisse der Putschnacht, in der 285 Menschen ihr Leben verloren. Erdogan würdigt den Widerstand: „Auch wenn wir unsere Märtyrer begraben haben, werden sie für immer in unseren Herzen leben“, sagt der Präsident. Die Putschisten hingegen würden „Tag um Tag sterben, weil sie hinter Gefängnismauern verfaulen“.

    Die Rache steht im Vordergrund

    Neben dem Andenken an die Opfer steht an diesem Jahrestag vor allem eins im Vordergrund: Rache. An der Bosporusbrücke schwenken einige in der Menge Galgenstricke und stimmen Sprechchöre an: „Tod, Tod!“ Erdogan greift den Ruf sofort auf: Wenn das Parlament ein Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe verabschiede, und daran habe er keinen Zweifel, werde er als Präsident es „ohne Zögern“ unterschreiben.

    Führt Erdogan tatsächlich die Todesstrafe wieder ein, wäre das wohl das Ende der EU-Beitrittsverhandlungen. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagt zwar, ein Jahr nach dem Putschversuch bleibe „Europas Hand ausgestreckt“. Er erwarte aber, dass die Türkei „europäische Grundwerte nachdrücklich beherzigt“, und hoffe, „dass die Türkei näher an Europa heranrückt, statt sich von uns zu entfernen“, schreibt er in einem Beitrag für die „Bild am Sonntag“. „Sollte die Türkei die Todesstrafe wieder einführen, würde die türkische Regierung die Tür zu einer EU-Mitgliedschaft endgültig zuschlagen.“

    Erdogan lässt sich nicht beirren

    Doch Erdogan scheint sich weder von den Mahnungen des Auslands noch von den Protesten der Opposition im eigenen Land beirren zu lassen. Er setzt seine „Säuberungen“ unvermindert fort. Zum Jahrestag des Putschversuchs ließ Erdogan per Dekret 7395 Staatsbedienstete feuern, darunter Polizisten, Soldaten, Lehrer, Diplomaten und Ministerialbeamte.

    Ihnen werden Verbindungen zum Exil-Prediger Fethullah Gülen vorgeworfen, dem einstigen Erdogan-Verbündeten, der sich vor etwa fünf Jahren zum Widersacher wandelte und als Drahtzieher des Putschversuchs beschuldigt wird. Gülen bestreitet die Vorwürfe. Der Ausnahmezustand, der Erdogan unter anderem ermächtigt, solche Massenentlassungen per Dekret anzuordnen, soll diese Woche ein viertes Mal verlängert werden.

    150.000 Staatsbedienstete gefeuert

    Fast 150.000 Menschen hat Erdogan bereits aus dem Staatsdienst gefeuert, mehr als 50.000 Verdächtige sitzen in Untersuchungshaft, die meisten ohne Anklage. Untersuchungshäftlinge will Erdogan künftig in einheitliche Uniformen stecken. „Herausgeputzt vor Gericht zu erscheinen, so etwas kann es nicht geben“, sagt Erdogan. Nach der Kundgebung am Bosporus fliegt Erdogan am späten Samstagabend nach Ankara, um vor dem Parlamentsgebäude zu sprechen.

    Die beiden größten Oppositionsparteien, die sozialdemokratische CHP und die prokurdische HDP, nehmen an der Gedenkveranstaltung nicht teil. Sie waren erst nach Protesten überhaupt eingeladen worden. Als sich aber herausstellte, dass bei der Versammlung nur Erdogan und Regierungspolitiker sprechen sollten, sagte die Opposition ihre Teilnahme ab.

    Hunderttausende Türken protestieren

    Hunderttausende Türken haben sich am Sonntag zum Abschluss eines langen Protestzuges in Istanbul versammelt. Demonstranten schwenkten türkische Fahnen und forderten Gerechtigkeit
    Hunderttausende Türken haben sich am Sonntag zum Abschluss eines langen Protestzuges in Istanbul versammelt. Demonstranten schwenkten türkische Fahnen und forderten Gerechtigkeit © dpa | Lefteris Pitarakis
    Die Aktion richtete sich gegen die Politik von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Der Chef der Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, der den Protestmarsch von der türkischen Hauptstadt Ankara nach Istanbul am 15. Juni initiiert hatte, sprach am Abend zu seinen Anhängern
    Die Aktion richtete sich gegen die Politik von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Der Chef der Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, der den Protestmarsch von der türkischen Hauptstadt Ankara nach Istanbul am 15. Juni initiiert hatte, sprach am Abend zu seinen Anhängern © REUTERS | STRINGER
    Hintergrund des Protestzugs war die Verurteilung des CHP-Politikers Enis Berberoglu im Juni zu 25 Jahren Haft nach Spionage-Vorwürfen.
    Hintergrund des Protestzugs war die Verurteilung des CHP-Politikers Enis Berberoglu im Juni zu 25 Jahren Haft nach Spionage-Vorwürfen. © Getty Images | Chris McGrath
    Die Türkei steht im Westen wegen ihres Umgangs mit Menschenrechten in der Kritik, seit ein gescheiterter Putsch gegen Erdogan vor rund einem Jahr eine Verhaftungswelle auslöste.
    Die Türkei steht im Westen wegen ihres Umgangs mit Menschenrechten in der Kritik, seit ein gescheiterter Putsch gegen Erdogan vor rund einem Jahr eine Verhaftungswelle auslöste. © Getty Images | Chris McGrath
    Der CHP-Abgeordnete Özgür Özel bezifferte die Teilnehmerzahl nach Angaben des Senders CNN Türk auf 1,6 Millionen. Die Veranstaltung fand unter hohen Sicherheitsvorkehrungen statt.
    Der CHP-Abgeordnete Özgür Özel bezifferte die Teilnehmerzahl nach Angaben des Senders CNN Türk auf 1,6 Millionen. Die Veranstaltung fand unter hohen Sicherheitsvorkehrungen statt. © Getty Images | Chris McGrath
    „Wir wollen, dass alle antidemokratischen Praktiken enden“, sagte Kilicdaroglu, Chef der größten Oppositionspartei CHP.
    „Wir wollen, dass alle antidemokratischen Praktiken enden“, sagte Kilicdaroglu, Chef der größten Oppositionspartei CHP. © Getty Images | Chris McGrath
    Die Gerichte würden ihre Entscheidungen „auf Anweisung des Palastes treffen“, sagte Kilicdaroglu vor jubelnden Anhängern in Anspielung auf Erdogans Präsidentenpalast. „Wir sind marschiert, für die Gerechtigkeit, die es hier nicht gibt.“ Die Demonstranten skandierten „Recht, Justiz, Gerechtigkeit“ und schwenkten türkische Fahnen.
    Die Gerichte würden ihre Entscheidungen „auf Anweisung des Palastes treffen“, sagte Kilicdaroglu vor jubelnden Anhängern in Anspielung auf Erdogans Präsidentenpalast. „Wir sind marschiert, für die Gerechtigkeit, die es hier nicht gibt.“ Die Demonstranten skandierten „Recht, Justiz, Gerechtigkeit“ und schwenkten türkische Fahnen. © Getty Images | Chris McGrath
    Der CHP-Chef und seine Unterstützer kritisieren die Politik Erdogans und der islamisch-konservativen AKP-Regierung und vor allem die Maßnahmen nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016. Die türkische Führung macht den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen für den gescheiterten Putsch verantwortlich.
    Der CHP-Chef und seine Unterstützer kritisieren die Politik Erdogans und der islamisch-konservativen AKP-Regierung und vor allem die Maßnahmen nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016. Die türkische Führung macht den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen für den gescheiterten Putsch verantwortlich. © Getty Images | Chris McGrath
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    3623 lebenslang für Gülen gefordert

    Erdogans Rede beginnt um 2.32 Uhr. In dieser Minute hatten die Putschisten vor einem Jahr die Nationalversammlung bombardiert. „Sowohl die elenden Putschisten als auch jene, die sie auf uns gehetzt haben, werden von nun an keine Ruhe mehr finden“, sagte Erdogan – eine Anspielung auf seinen Erzfeind Gülen. Die Türkei bemüht sich in Washington um eine Auslieferung des Predigers, bisher allerdings ohne Erfolg. Die türkische Staatsanwaltschaft fordert 3623 Mal lebenslange Haft für Gülen.

    Was Gülen in der Türkei wirklich drohen könnte, skizziert bei der Feierstunde vor der Nationalversammlung Parlamentspräsident Ismail Kahraman in drastischen Worten: „Denjenigen, die unsere Werte angreifen, brechen wir die Hände, schneiden ihnen die Zunge ab und vernichten ihr Leben.“