Berlin. Soziologen der Technischen Universität Berlin haben die Demonstrationen in Hamburg beobachtet. Peter Ullrich spricht von „Kriegslogik“.

Der Sonntag in Hamburg stand im Zeichen der Aufräumarbeiten. Kehrmaschinen rollten durch das Schanzenviertel, nach der dritten Krawallnacht lagen in den Straßen verkohlte Barrikaden, Glasscherben, zerstörte Stromkästen. Gleichzeitig begann das Ringen nach Antworten auf Fragen wie diese: Wie konnte extreme Gewalt gegen Polizei und Eigentum den weitgehend friedlichen Protest gegen den G20-Gipfel überschatten? Wer waren die vermummten Gestalten, die drei Tage lang brandschatzend und plündernd durch Hamburg liefen? Was wollten sie? Und warum gelang es der Polizei nicht, die Eskalation zu verhindern?

Antworten auf solche Fragen sucht Peter Ullrich von der Technischen Universität (TU) Berlin seit über 15 Jahren. Der Soziologe erforscht soziale Bewegungen und Protest. Mit Kollegen vom Berliner Institut für Protest- und Bewegungsforschung hat Ullrich die Demonstranten und Polizisten in Hamburg beobachtet, Befragungen unter den Protestteilnehmern durchgeführt.

Die Polizei habe die falschen Schwerpunkte gesetzt, sagen die Forscher

Sein Fazit: Bei den Anti-G20-Protesten in Hamburgerlebte die Demonstrationskultur in der Bundesrepu­blik einen Rückfall in die 80er-Jahre. „Die Erfahrung, die die Polizei beispielsweise bei den Berliner Mai-Demonstrationen mit Deeskalationstaktiken sammeln konnte, wurde in Hamburg über Bord geworfen“, sagt Ulrich.

In einer schwierigen Gemengelage, in der die Polizei einerseits das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gewährleisten müsse, das Gipfeltreffen der G20-Politiker schützen und gleichzeitig so etwas wie Alltag für die Bewohner einer Millionenstadt garantierten müsse, seien von Seiten der Polizei die falschen Schwerpunkte gesetzt worden: „Die Polizei wollte sich die Herrschaft über das Versammlungsrecht erkämpfen, und hat versucht, an jeder möglichen Stelle einzugreifen.“

Wut über Randale und Zerstörung in Hamburg

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    „Spirale der Gewalt nach Eingreifen der Polizei“

    Mit der Auflösung der Protestcamps auf der Halbinsel Entenwerder und dem schnellen Eingreifen bei der „Welcome to hell“-Demonstration sei eine Spirale der Gewalt in Gang gesetzt worden. Soziologe Ullrich spricht von einer „Kriegslogik“. Diese sei bereits vor dem G20-Gipfel von einigen militanten Linksradikalen aufgebaut worden. Aber auch die Polizei habe im Vorfeld „Horrorszenarien“ heraufbeschworen und später durch das eigene Eingreifen freigesetzt. „Das entspricht nicht einem modernen Verständnis von Versammlungsrecht“, sagt Peter Ullrich.

    Während auch Vertreter der linken Szene die Polizei für die Ausschreitungen verantwortlich machte, verteidigte Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) ihren Einsatz als „heldenhaft“. Es sei allerdings nicht gelungen, den G20-Gipfel wie geplant durchzuführen, räumte Scholz ein. Verantwortlich dafür seien aber „brutale Straftäter“.

    „Testosterongesteuerte Männer“, die „Gewaltfantasien“ ausleben wollten

    Aus Sicht des Protestforschers Peter Ullrich haben jene schwarz vermummten Randalierer, die Supermärkte geplündert und ganze Straßenzüge in Brand gesetzt hatten, mit linksradikalen Aktivisten nur teilweise Schnittmengen. Die meisten in der Szene seien mit der Absicht angereist, den Gipfel mit politischem Ungehorsam so weit wie möglich zu stören. Entsprechende Konsenspapiere seien in der Szene verabschiedet worden. Allerdings sei bei Großdemonstrationen klar: nicht alle werden sich daran halten.

    Scholz hofft auf harte Strafen für G20-Gewalttäter

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      Die Zahl der Gewaltbereiten, die aus ganz Europa angereist seien, schätzte er auf einige Hundert. „Das waren testosterongesteuerte Männer, denen es um das Ausleben der eigenen Gewaltfantasien ging“, sagt Ullrich. Auch durch das kompromisslose Vorgehen der Polizei hätten sich viele Unbeteiligte und gemäßigte Demonstranten dazu ermutigt gefühlt, sich an Randale und Gewalt zu beteiligen. Das Ergebnis: Eine Art Straßenparty des Anarchismus, mit Selfies vor brennenden Barrikaden. (mit dpa)