Berlin. EU-Währungskommissar Moscovici spricht im Interview über die Milliardenhilfen für Griechenland. Er sieht das Land auf einem guten Weg.

Pierre Moscovici hat ein durchwachsenes Wochenende hinter sich, als er unsere Berliner Redaktion besucht. Seine Partei, die Sozialisten, hat bei der Wahl zur französischen Nationalversammlung eine vernichtende Niederlage erlitten. Über den Erfolg von Präsident Emmanuel Macron kann aber auch er sich freuen.

Emmanuel Macron hat mit seiner neuen Partei einen großen Sieg errungen. Was hat Europa jetzt von Frankreich zu erwarten?

Pierre Moscovici: Die Partei von Emmanuel Macron, die es vor einem Jahr noch gar nicht gegeben hat, wird in der Nationalversammlung die meisten Abgeordneten in der Geschichte der Republik haben. Das ist ein beispielloser Erfolg. Allerdings sind viele Menschen nicht zur Wahl gegangen. Sie warten erst ab, was Macron leistet. Wir haben im Élysée-Palast einen leidenschaftlichen Europäer mit ehrgeizigen Zielen – etwa die Stärkung der Eurozone. Es geht um Stabilität und Wohlstand. Macron will einen Neustart für die Europäische Union, und er glaubt an den deutsch-französischen Motor. Sein Verhältnis zu Angela Merkel ist ausgezeichnet. Und in Frankreich selbst hat der Präsident alle Handlungsmöglichkeiten, um seine Reformagenda umzusetzen.

An welche Reformen denken Sie?

Moscovici: Frankreich muss seine Glaubwürdigkeit wiederherstellen, was Reformen angeht. Das betrifft den Arbeitsmarkt genauso wie den Staatshaushalt. Ich dränge den Präsidenten dazu, die Vorgaben des Wachstums- und Stabilitätspakts schon in diesem Jahr wieder einzuhalten. Das französische Haushaltsdefizit darf die Marke von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht mehr überschreiten.

Die Rechtsextremistin Marine Le Pen hat schwächer abgeschnitten als befürchtet, aber immer noch stärker als Ihre eigene Partei. Was ist los mit den Sozialisten?

Moscovici: Die französischen Sozialisten haben mehr als eine schwere Niederlage erlitten. Es geht um ihr Überleben. Sozialisten und Sozialdemokraten sind in ganz Europa in einer schwierigen Situation. Wir müssen uns fragen: Was bedeutet es, im 21. Jahrhundert ein Sozialdemokrat zu sein? Einigen sind wir nicht links genug, nicht radikal genug. Meine Überzeugung ist: Die sozialistische Partei in Frankreich ist in ihrer alten Form nicht überlebensfähig, aber es gibt Raum für eine neue.

Was bedeutet das für Deutschland? Was kann die SPD mit ihrem Kanzlerkandidaten Martin Schulz ausrichten?

Moscovici: Ich möchte mich nicht in den deutschen Wahlkampf einmischen. Ich fühle mich meinen sozialdemokratischen Freunden Martin Schulz und Sigmar Gabriel sehr nahe, aber ich habe auch ein gutes Verhältnis zu meinem Amtskollegen Wolfgang Schäuble. Anders als die Franzosen haben die Deutschen ja Glück: Es stehen zwei respektable, proeuropäische Kandidaten zur Wahl. Angela Merkel gegen Martin Schulz – da kann gar nichts schiefgehen.

Für Großbritannien gilt das jedenfalls nicht. Wie wirkt sich die Wahlschlappe von Premierministerin May auf die Brexit-Verhandlungen aus?

Moscovici: Das hängt von den Briten ab. Wir dürfen uns aber nichts vormachen: Die Wahl war kein neues Brexit-Referendum, sie war erst recht kein Votum für einen Verbleib in der EU. Sie kann aber Einfluss haben auf den Geist der Brexit-Verhandlungen.

Wird es nun ein sanfter Brexit?

Moscovici: Labour-Chef Jeremy Corbyn, der einen sanfteren Brexit befürwortet, hat viel besser abgeschnitten als erwartet. Und die Position von Frau May, die einen harten Brexit will, ist geschwächt.

Bleibt es beim Zeitplan?

Moscovici: Die Rechtslage ist klar: Zwei Jahre nach Einreichen des Austrittsantrags müssen die Verhandlungen abgeschlossen sein.

Einen Exit vom Brexit halten Sie für ausgeschlossen?

Moscovici: Danach sieht es gerade nicht aus. Aber wie heißt dieser James-Bond-Film? Sag niemals nie!

Sie haben ein Konzept für eine Wirtschafts- und Währungsunion vorgelegt, die 2025 vollendet sein soll. Ist eine weitere Vertiefung der EU wirklich das Gebot der Stunde?

Moscovici: Mehr als je zuvor. Der Rechtspopulismus hat einige Gegentore kassiert, aber noch nicht das Match verloren. Und was nährt den Populismus? Das Gefühl der Ungleichheit – innerhalb eines Wirtschaftsraums und zwischen den Wirtschaftsräumen in Europa. Jene, die sich als Verlierer der Globalisierung sehen, wählen Rechtspopulisten. Wir brauchen eine Dynamisierung der europäischen Wirtschaft – und wir müssen den gemeinsamen Wirtschaftsraum vereinheitlichen. Dafür fehlen uns bisher die Instrumente.

Sie schlagen etwa einen europäischen Finanzminister vor – was soll das bringen?

Moscovici: Mir kommt es nicht auf die Bezeichnung an. Das muss kein Minister sein. Mir geht es um die Funktion: Wir brauchen jemanden, der zugleich Präsident der Eurogruppe und Mitglied der EU-Kommission ist. Wir brauchen einen klaren Verantwortlichen für die Finanzpolitik, der sich vor dem Europäischen Parlament verantworten muss. Das soll kein Superminister für Finanzen werden, kein Vorgesetzter der nationalen Finanzminister. Wolfgang Schäuble muss sich keine Sorgen machen.

Was verstehen Sie unter wirtschaftlicher Angleichung? Wollen Sie den Süden Europas stärken und Deutschland schwächen?

Moscovici: Sinn der Eurozone ist, dass die starken Länder stark bleiben und die schwachen Länder stärker werden. Das liegt auch im Interesse Deutschlands. Wir brauchen beides: Solidarität und Verantwortung, die Teilung und den Abbau von Risiken. Deutschland hat nichts zu fürchten von südeuropäischen Ländern, die stärker werden. Deutschland ist bei Weitem die stärkste Volkswirtschaft.

Zielen Sie auf eine Vergemeinschaftung der Schulden?

Moscovici: Die EU-Kommission schlägt keine Euro-Bonds vor. Wir wissen, dass dies eine rote Linie ist für unsere deutschen Freunde. Auf lange Sicht, in einer vollständig integrierten Eurozone, kann man auch über eine Vergemeinschaftung neuer Schulden sprechen. Aber damit werden wir nicht beginnen.

Trotzdem wollen Sie, dass Deutschland mehr zahlt.

Moscovici: Es geht uns nicht darum, eine Transferunion zu schaffen. Aber wenn wir einen europäischen Haushalt für Investitionen schaffen, brauchen wir Mittel von allen Mitgliedstaaten – entsprechend ihrer wirtschaftlichen Stärke.

Zwingen Sie alle EU-Staaten dazu, bis 2025 den Euro einzuführen?

Moscovici: Das ist ein Missverständnis. Es gibt ein Bekenntnis aller Mitgliedstaaten zum Euro – mit Ausnahme Dänemarks. Aber wir zwingen niemanden in den Euro. Polen oder Ungarn können ihre nationalen Währungen behalten. Aber wir sind sicher, dass eine reformierte Währungsunion auch für diese Länder attraktiv sein wird.

Ist ein Austritt Griechenlands endgültig vom Tisch?

Moscovici: Ein Grexit ist außerhalb jeder Diskussion. Und das ist gut so. Auch Wolfgang Schäuble spricht sehr positiv über die Sparanstrengungen in Griechenland. Das Reformpaket, das jetzt vom Parlament verabschiedet wurde, ist sehr hart. Die Renten wurden um 25 Prozent gekürzt. Ich wünsche keinem Land, so etwas durchsetzen zu müssen. Dafür sollten die Griechen belohnt werden.

Was empfehlen Sie den Euro-Finanzministern, die am Donnerstag über neue Milliardenhilfen entscheiden?

Moscovici: Die Finanzminister werden zweierlei diskutieren: Ist das Reformpaket ausreichend, um die nächste Tranche des Hilfsprogramms auszahlen zu können? Ich erwarte, dass die Antwort ein Ja sein wird. Die Dinge bewegen sich in die richtige Richtung. Die zweite Diskussion dreht sich um die Schulden. Ich hoffe, dass wir zu einer fairen Lösung kommen.

Braucht Griechenland einen Schuldenschnitt?

Moscovici: Niemand will mehr einen Schuldenschnitt. Es geht um Schuldenerleichterungen, etwa um längere Tilgungsfristen.

Wann kann das Land an den Kapitalmarkt zurückkehren?

Moscovici: Ich bin davon überzeugt: Das dritte Hilfsprogramm wird das letzte sein. Danach ist Griechenland wieder ein normales Mitglied der Eurozone. Das wird wahrscheinlich schon 2018 der Fall sein.