London/Berlin. Premierministerin Theresa May wollte eine starke Position für den Brexit erlangen. Jetzt hat sie ihr Land und sich selbst geschwächt.

Als sie um halb vier Uhr früh am Freitagmorgen in ihrem Wahlkreis Maidenhead eintrifft, ist ihre Miene wie versteinert. Premierministerin Theresa May weiß zu diesem Zeitpunkt, dass sie sich verzockt hat. Im April, getragen von einem phänomenalen Hoch in den Umfragen, hatte sie Neuwahlen ausgerufen. Ihr Traum: eine noch größere Mehrheit im Parlament, eine satte Basis für die Verhandlungen über einen harten Brexit.

Nun hat die Konservative Partei zwölf Mandate verloren. Die absolute Mehrheit ist futsch. Eine persönliche Schlappe und eine politische Katastrophe für die Premierministerin. Sie ist vom Wahl-Schock gezeichnet. Ihr Gesicht ist grau, ihre Stimme zittrig, ihre grellrot geschminkten Lippen scheinen noch dünner als sonst, sie blinzelt nervös.

„In diesen Zeiten braucht das Land mehr als alles andere eine Periode der Stabilität“, sagt die Regierungschefin. „Wenn die Konservativen die meisten Sitze und die meisten Stimmen gewonnen haben, obliegt es uns, sicherzustellen, diese Phase der Stabilität zu bekommen, und das ist es, was wir tun werden.“ Es soll den Anhängern Mut einflößen, doch die Worte klingen hohl.

Nach Besuch bei der Queen wirkt May gefasst

Dann lässt Downing Street 10 verlauten: Theresa May wird die Queen am frühen Freitagnachmittag aufsuchen und Elizabeth II. bitten, eine Regierung bilden zu dürfen. Damit ist klar: May will im Amt bleiben. Als die Premierministerin aus dem Buckingham-Palast zurückkommt, wirkt sie wieder so gefasst und resolut, wie man sie von ihren Ansprachen kennt.

Im königsblauen Kostüm tritt May ans Rednerpult und wendet sich ans Volk. „Ich werde eine Regierung bilden“, sagte sie, „die das Land durch diese schwierigen Zeiten und durch die kritischen Brexit-Verhandlungen führt, die in nur zehn Tagen beginnen.“ Man werde „mit unseren Freunden und Alliierten in der Democratic Unionist Party im Besonderen zusammenarbeiten. Lasst uns an die Arbeit gehen!“

Mit DUP eine knappe Mehrheit

Damit ist klar: Es soll eine Minderheitsregierung werden. Die Democratic Unionist Party (DUP) hat in Nordirland zehn Mandate gewinnen können. Zusammen mit den 318 Sitzen der Konservativen würde es gerade reichen, dass eine Regierung im Parlament nicht abgewählt werden kann – die magische Grenze liegt bei 326 Sitzen. Dabei soll es aber zu keiner formellen Koalition zwischen DUP und Konservativen kommen, sondern zu einer Duldungsvereinbarung mit informellen Absprachen: Die DUP unterstützt die Regierung in den entscheidenden parlamentarischen Abstimmungen zum Regierungsprogramm und zum Haushalt und bekommt im Gegenzug Zugeständnisse.

Wie die aussehen sollen, ist Sache der Verhandlungen in den nächsten Tagen. Aber es dürfte auf mehr Geld für die Provinz Nordirland hinauslaufen und auf ein Mitspracherecht bei den Brexit-Verhandlungen. Denn die DUP tritt für einen Verbleib Nordirlands in der Zollunion ein. Damit will sie verhindern, dass es zu einer harten Grenze zwischen der Provinz und dem EU-Mitglied Irland im Südteil der Insel kommt. Das könnte bedeuten, dass der Brexit ein Stück weicher ausfallen könnte, als es May zuvor angekündigt hatte.

Kann sich May in der Partei behaupten?

Großbritannien ist in eine Phase der Unwägbarkeiten eingetreten. Eine der vielen Fragen lautet: Wird sich May innerhalb ihrer eigenen Partei behaupten können, obwohl sie persönlich verantwortlich für die Wahlschlappe ist? Ihr großer Konkurrent, Außenminister Boris Johnson, wird wohl hinter den Kulissen ausloten, ob Mays Rückhalt in der Fraktion noch ausreicht oder seine eigenen Chancen steigen.

Mit Loyalitätsbekundungen hielt sich der widerborstige Blondschopf am Freitag jedenfalls zurück. „Wir müssen unseren Wählern zuhören und ihre Sorgen anhören“, unterstreicht er. Es klingt, als habe die Premierministerin das bislang sträflich unterlassen. Wirft da einer einen Stein ins Wasser und wartet auf die Wellen, die er schlägt? May ändert an ihrem Kabinett wenig: Wichtige Minister wie Schatzkanzler Philip Hammond, Außenminister Boris Johnson, Innenministerin Amber Rudd, Verteidigungsminister Michael Fallon sowie Brexit-Minister David Davis würden im Amt bleiben, teilte ihr Büro mit.

Labour-Chef Jeremy Corbyn ist der Gewinner der Wahl

Keine Frage: May hat schwere Fehler gemacht. Sie hatte ohne Not die Wahlen angesetzt. Sie legte schwache Wahlkampfauftritte hin. Sie verspielte ihre zuvor große Popularität. Sie nahm eine desaströse „Demenzsteuer“, nach der ältere Mitbürger selbst für ihre Pflege aufkommen müssen, ins Wahlprogramm auf. Und: Sie sorgte dafür, dass zwölf ihrer Fraktionskollegen ihren Job verloren. Konservative Parteivorsitzende sind schon für sehr viel weniger zum Rücktritt gezwungen worden.

So reagiert das Netz auf die Wahl in Großbritannien

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    Auch der Labour-Chef Jeremy Corbyn wird nicht müde, nach der Demission von May zu rufen. Er hat einen hervorragenden Wahlkampf hinter sich. Im Gegensatz zu May, die ihren Wahlkampf auf immer gleichen Slogans und Plattitüden aufbaute, redete Corbyn über politische Inhalte, versprach ein Ende der Sparpolitik und warb für die Nationalisierung von Bahn, Post und Energieunternehmen.

    Besonders sein Versprechen, die Studiengebühren abzuschaffen, hat zu einer Mobilisierung der Jungwähler zwischen 18 und 24 Jahren geführt. Die deutlich verstärkte Wahlbeteiligung in dieser Altersgruppe ist einer der entscheidenden Faktoren dafür, dass die Labour Party ihren Stimmanteil auf 40 Prozent, nur zwei Punkte hinter den Konservativen, anheben konnte.

    „Britische Politik ist wie italienische – nur ohne Sex“

    Und vielleicht bekommt Corbyn eine Chance, selbst eine Minderheitsregierung auf die Beine zu stellen, sollte May eine Vertrauensabstimmung verlieren. Eine informelle Allianz aus Labour, Liberaldemokraten und schottischen Nationalisten von der SNP wäre allerdings brüchig und hätte nicht genug Mandate für eine stabile Mehrheit. Doch die Konventionen der ungeschriebenen britischen Verfassung gebieten, dass dem Oppositionsführer zumindest die Chance einer Regierungsbildung eingeräumt wird, bevor es zu Neuwahlen kommt.

    In diesem Fall sähen sich die leidgeplagten Briten einer vierten nationalen Abstimmung in drei Jahren gegenüber. „Britische Politik“, scherzte ein langjähriger Beobachter, „wird immer mehr wie italienische Politik. Aber ohne das gute Wetter. Oder den Sex.“

    Brexit-Verhandlungen beginnen am 19. Juni

    Für den Brexit hat der überraschende Wahlausgang weitreichende Bedeutung. Mit Zufriedenheit wird man in Brüssel allerdings aufnehmen, dass May am Zeitplan festhält: Am 19. Juni sollen die Brexit-Verhandlungen beginnen. Begrüßt dürfte auch werden, dass jetzt die Chancen auf einen harten Brexit deutlich gefallen sind. Denn zum einen hat das konservative Wahlprogramm, das den harten Ausstieg aus Binnenmarkt und Zollunion versprach, keine Mehrheit gefunden. Und zweitens kommt hinzu, dass jetzt die DUP ein Wörtchen mitzureden hat. Deren Chefin Arlene Foster hat deutlich gemacht, dass sie keinen harten Brexit will. Die Finanzmärkte haben schon auf die Aussicht eines weicheren Brexit reagiert. Nach dem anfänglichen Schock hat sich das Pfund im Laufe des Freitags wieder leicht erholt.