Bogotá. Kolumbien ist gezeichnet von 50 Jahren Bürgerkrieg. Nach den erfolgreichen Verhandlungen mit der Farc-Guerilla bleiben die Gräben tief.

Wenn Yadis ihr Dorf Palo Blano beschreibt, diese Ansammlung von Hütten irgendwo im Hinterland der kolumbianischen Drogenmetropole Cali, dann zählt sie vor allem die Dinge auf, die es nicht gibt: Eine Wasserleitung. Eine befestigte Straße. Schutz vor Erdrutschen. Sportplätze, Parks. Und natürlich, das steht über allem, Frieden, Versöhnung, Sicherheit.

Die 16 Jahre alte Aktivistin der Bewegung „Nutze deine Kraft für den Frieden“ holt Luft und wirft ihre langen Rastazöpfe nach hinten. Sie habe den festen Willen, mal Bürgermeisterin von Palo Blano zu werden. Der erste Schritt in die Karriere: Seit Kurzem studiert sie Jura – die in Kolumbien frühe Einschulung und die kurze Schulzeit machen es möglich.

Bürgerkrieg forderte 220.000 Todesopfer

In ihrem Dorf präsentiert sie sich obendrein als Frontfrau der Bewegung. „Die Zeit ist reif für Versöhnung“, sagt sie – nach fünf Jahrzehnten Bürgerkrieg, der 220.000 Todesopfer forderte und sechs Millionen Menschen die Heimat nahm.

Yadis (2. v. l.) und ihre Freunde setzen sich für den Friedensprozess ein. Sie werden von Plan International unterstützt.
Yadis (2. v. l.) und ihre Freunde setzen sich für den Friedensprozess ein. Sie werden von Plan International unterstützt. © Anika Büssemeier/Plan Internati | Anika Büssemeier/Plan International

Für Yadis hat eine neue Zeit begonnen – obwohl die Auslöser des Krieges nach wie vor das Land lähmen: die große soziale Schere, die Massenarmut, die Korruption im Politikbetrieb. Sie ist beflügelt vom Friedensvertrag zwischen der Regierung von Präsident Juan Manuel Santos und den Farc-Guerillas, der im Dezember vergangenen Jahres nach einem gescheiterten Referendum und zähen Nachverhandlungen in Kraft trat.

Die Angst sitzt noch immer tief

Während Yadis mit ihren wachen Augen und dem strahlenden Lachen bereits den Optimismus einer Politikerin ausstrahlt, ist der Alltag ihrer Mitstreiterinnen aus dem Dorf, Valentina (13) und Sandra (15), immer noch von Angst geprägt. Zu nah sind ihre Erinnerungen an die Schusswechsel, vor denen sie sich in der Kindheit schützen mussten. Zu groß war die Angst vor Zwangsrekrutierungen der Guerilla.

„Nach 18 Uhr durften wir nicht mehr vor die Tür“, sagt Sandra, die ihre Augen weit aufreißt und die Bluse ihrer Schuluniform zurechtzieht, als sie die Geschichte vom Onkel erzählt, der eine Caseta, ein kolumbianisches Tanzlokal, hatte. Dort, sagt sie, hätten eines Tages Paramilitärs ihr Unwesen getrieben. „Sie zwangen die Gäste auf die Knie, durchsuchten das Lokal, fanden die Machete des Onkels und köpften damit einen Besucher.“

Die Opfer wollen traumatische Erlebnisse überwinden

Tatsächlich sind die Paramilitärs der Horror für die Menschen in Palo Blano. Von dem Terror der Rechten blieb in den Jahren zwischen 2000 und 2004 kaum jemand verschont. „Es waren Tausende“, sagt Valentinas Mutter Leisimira. Ein „Commandante“ habe sich ihr Bett in der Sála, dem Wohnraum, genommen. Fliehen konnten sie nicht: „Die Farc saßen in den Bergen.“ Und die Frauen in der Falle.

Später, als Tochter Valentina nicht zuhört, erzählt Leisimira, dass sie selbst Vergewaltigungsopfer war und schwanger wurde. Ob Valentina das Kind sei? Leisimira überhört die Frage. Heute lebt sie mit der Tochter getrennt vom Ehemann und dem 19-jährigen Sohn, arbeitet in einer illegalen Mine als Goldwäscherin und versucht, ihre traumatischen Erlebnisse zu überwinden. Der erste Schritt in diese Richtung: Sie hat sich als Opfer registrieren lassen und strebt mit 50 Mitstreiterinnen eine Sammelklage gegen ihre Peiniger an.

Leisimira (l.) und ihre Tochter Valentina (13).
Leisimira (l.) und ihre Tochter Valentina (13). © Anika Büssemeier/Plan Internati | Anika Büssemeier/Plan International

Alleinerziehende Frauen werden mit dem Tode bedroht

Was den Menschen im Dorf den Schlaf raubt und sie nach 18 Uhr wieder in die Häuser zwingt, sind die Flugblätter, in denen eine anonyme Gruppe alleinerziehende Frauen als vermeintliche Ehebrecherinnen mit dem Tode bedroht.

Von „Säuberung“ auf den Straßen nach 21 Uhr ist dort die Rede, weder „Katze noch Hund“ sollen sich dann noch draußen herumtreiben. „Wir töten jede Hure“, heißt es, und wenn sich lokale Autoritäten nicht um Drogendealer und andere „Banditen und Ratten“ kümmerten, „dann werden wir das machen“. Für Maricela Antero, Lehrerin im Dorf, tragen die Flugblätter die Handschrift der Paramilitärs.

„Sie töten nach wie vor“

„Mein Land ist immer noch im Krieg“, sagt dazu Yefferson Ospina Bedoya, Journalist der Tageszeitung „El País“ in Cali. Der 28-Jährige hat sich auf bewaffnete Konflikte und städtische Gewalt spezialisiert. „Paramilitärische Gruppen kämpfen trotz offizieller Auflösung weiter. Wir wissen nicht genau, wie viele es sind. Sie töten nach wie vor, und statt Tomaten werden Drogen angebaut.“

Koka, sagt der Journalist, halte Banden und Drogenbosse am Leben. Hinzu kämen übrig gebliebene Guerilla-Gruppen wie die ELN, die den Friedensprozess verweigern. „Sie alle füllen das Vakuum, das die Farc hinterlassen hat.“

Vor allem die Region rund um Cali, Hauptstadt des Departements Valle del Cauca und berüchtigt für Drogen- und Bandenkriege, sei betroffen. Nach Bogotá und Medellin ist Cali mit 2,5 Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt Kolumbiens – und Hauptstadt der Gewalt. Im vergangenen Jahr wurden 1358 Menschen ermordet. „Die Menschen hier“, sagt Yefferson, „sind alle Opfer.“ Das sei die normale Situation. „Der Vater starb, die Kinder wurden rekrutiert, der Großteil wurde irgendwann vertrieben. Alle haben so eine Geschichte. Und alle erleben immer noch Gewalt.“

Kind von Querschläger tödlich getroffen

Wie Carolina, die in Porto Tejada, einer Kleinstadt in der Nähe von Cali, einen kleinen Friseursalon betreibt. Ihre zwölfjährige Cousine wurde just vor ihrem Geschäft, wo die Familie am 1. Weihnachtstag zusammenkam, von einem Querschläger tödlich getroffen. „Der Schuss galt eigentlich einem Mopedfahrer auf der Flucht“, sagt sie.

Eisverkäuferin Marta verlor Mutter und später den Ehemann im Bürgerkrieg.
Eisverkäuferin Marta verlor Mutter und später den Ehemann im Bürgerkrieg. © Anika Büssemeier/Plan Internati | Anika Büssemeier/Plan International

Marta, eine andere junge Frau, hat furchtbare Angst vor derartigen Auseinandersetzungen. Die 28-Jährige betreibt eine mobile Eisstation in einem Vorort von Porto Tejada. Für umgerechnet 30 Cent dreht sie gefrorene Brocken durch einen „Eiswolf“ und mischt das zerhackte Eis mit Kondensmilch, Honig, Zitronensaft und Karamellsirup.

Hauptsache, der Tochter passiert nichts

Die eigene Mutter starb bei einem Schusswechsel in einem Tanzlokal, als sie selbst vier war, wie sie erzählt. Und am 23. Februar 2006 – damals war sie 17 – geriet ihr erster Ehemann in den Kugelhagel einer Schießerei, als er aus dem Gottesdienst kam, und starb. Sie wusste damals noch nicht, dass sie schwanger war. Heute sei das Wichtigste in ihrem Leben, dass ihrer elfjährigen Tochter Yarin nichts passiere. „Nie wieder möchte ich ein Kind“, sagt sie.

Christian, 32, verkauft in einem winzigen Geschäft Sportkleidung für Männer. In der einzigen Vitrine, hinter der er mit Achselhemd, trainierten Oberarmen und Smartphone thront, hat er Nike-Sneaker ausgestellt. Als 15-Jähriger, erzählt er, sei er in eine Bandenschießerei geraten. „Ich war nicht beteiligt an der Auseinandersetzung, nur neugierig.“ Eine Kugel traf seinen Rücken.

Er glaubt an den Frieden, nicht an die Vereinbarung mit der Farc

Dass der stattliche junge Mann seitdem behindert ist, fällt erst auf, als er hinter der Vitrine hervorkommt, sich mit der einen Hand auf eine Gehhilfe stützt und seine Beine mühsam nach vorn bewegt. Ob er an den Frieden glaubt? „Die Macht Gottes wird es möglich machen“, sagt er. Aber an die Vereinbarung mit der Farc glaube er nicht.

Die ist bei vielen Opfern nicht gut angesehen. Auch Carolina, die Friseurin, und Marta, die Eisverkäuferin befürchten, dass die ehemaligen Farc-Kämpfer zu gut wegkommen – und stimmten beim Referendum im vergangenen Oktober gegen das Abkommen oder gingen gar nicht erst hin.

Ehemalige Farc-Kämpfer brauchen Schulen, Häuser, Land und Jobs

Tatsächlich brauchen die Farc-Kämpfer nun Hilfe, daran lässt Hollmann Morris, Menschenrechtsaktivist, Fernsehjournalist und Lokalpolitiker aus Bogotá, keinen Zweifel. Die Frage sei: „Sind wir als Gesellschaft in der Lage, diese jungen Leute einzugliedern?“

Ohne Integration werde es jedenfalls keinen Frieden mit ihnen geben, glaubt auch Journalist Yefferson. Die ehemaligen Farc-Kämpfer bräuchten nun Schulen, Häuser, Land und Jobs. Die Opfer, die sich heute mit ihren traumatischen Erlebnissen herumschlagen und mit ihrer Entwurzelung, die verzweifelt versuchen, mit ihren kleinen Geschäften ihre Kinder aus der Armut zu holen, haben dafür kein Verständnis.

Teenager-Schwangerschaften sind häufig

Gewalt beherrscht nach wie vor den Alltag in den Familien, Teenager-Schwangerschaften und sexueller Missbrauch sind an der Tagesordnung. Etwa in der Peripherie der Karibik-Metropole Cartagena, der Vertriebenen-Hochburg, wo knapp 600.000 eingetragene Opfer leben.

Viele Flüchtlinge aus dem Landesinneren und auch aus dem krisengebeutelten Nachbarland Venezuela versuchen hier, sich eine neue Existenz aufzubauen. Die Schattenwirtschaft beutelt die Region, Kleindealer treiben an jeder Ecke ihr Unwesen, der Sextourismus blüht. „Nach fünf Jahrzehnten Krieg und Vertreibung sind die Menschen verroht“, sagt Yefferson. „Die Werte müssen in dieser Gesellschaft wieder zurückkehren.“

Es kommt auf die Kinder und Jugendlichen an

Das sieht auch der 18-jährige José Francisco so. Er lebt in El Pozón, einer besonders gefährlichen Vorstadt Cartagenas. Dort engagiert er sich für den Jugendbeirat der Hilfsorganisation Fundación Plan, dem kolumbianischen Ableger von Plan International. Geld verdient er, wie er sagt, als Wirtschaftsberater. Lieber würde er allerdings Journalismus studieren – wenn er einen Studienplatz bekäme. In seinem Viertel klärt er Jugendliche, die mit Gewalt und Missbrauch konfrontiert sind, über ihre Rechte auf. „Es gibt Familien, in denen sind alle Analphabeten“, sagt er. „Wie können Eltern das zulassen? Wo sind die viel gepriesenen Fortschritte?“

Diese Fragen stellt sich auch Yadis, die knapp 800 Kilometer südlich, eine Stunde Fahrtzeit von der Pazifikküste, für eine Wasserleitung und eine asphaltierte Straße kämpft. Und, natürlich, für Frieden und Versöhnung – in ihrem Dorf Palo Blano und in ganz Kolumbien. Es komme auf die Kinder und Jugendlichen an. „Und wer weiß“, sagt sie, „vielleicht gehe ich mal nach Bogotá. Und werde Bildungsministerin.“