München. Zu wenig Menschen profitieren vom Wirtschaftserfolg des Landes, klagt der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm im Interview.

Heinrich Bedford-Strohm hat nicht viel Zeit. Noch vor Beginn des Interviews im Münchner Landeskirchenamt sagt der bayerische Landesbischof und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, er müsse später pünktlich zu einem ganz wichtigen Termin: Er wolle die Verkäufer von Obdachlosenzeitungen treffen. Den Blick auf die Schwachen der Gesellschaft zu richten, ist sein großes Thema.

Gibt es eine gesellschaftliche Gruppe, von der Sie sagen würden: Die haben wir als Kirche verloren?

Heinrich Bedford-Strohm: Gott wird in der Bibel als Beschützer der Armen dargestellt. Das gilt heute wie früher. Es ist daher bedauerlich, dass sich die Gewerkschaftsbewegung historisch zunächst zum Gegenpol der Kirchen entwickelt hat. Als Kirche haben wir es versäumt, die Arbeiterschaft für uns zu gewinnen, als es im 19. Jahrhundert wichtig gewesen wäre. Heute sind wir da weiter. Aber wir müssen uns ständig fragen, ob wir die Sprache der Leute sprechen oder ob wir nur einem elitären Milieu verhaftet sind. Es besteht kein Zweifel daran, dass die soziale Gerechtigkeit zur DNA der christlichen Religion gehören muss.

Kommt das bei den Armen und Schwachen auch an?

Bedford-Strohm: Ich hoffe, dass die Kirche künftig stärker als Stimme der Schwachen wahrgenommen wird, als es derzeit der Fall ist. Eine Kirche, die sich nicht um die Armen kümmert, ist nicht die Kirche Jesu Christi. Das müssen wir deutlicher sagen. Es gibt dafür in der jetzigen politischen Lage genug Anlass.

Heinrich Bedford-Strohm mit Chefreporter Karsten Kammholz beim Interview in München.
Heinrich Bedford-Strohm mit Chefreporter Karsten Kammholz beim Interview in München. © Theo Klein | Theo Klein

Geht es denn so ungerecht zu in diesem Land?

Bedford-Strohm: Im Schatten der Wohlstandsmehrung der oberen Hälfte in unserem Land hat die soziale Ungleichheit in Deutschland in den letzten Jahren zugenommen. Menschen mit geringerer Bildung haben weniger Chancen als Menschen mit guter Bildung. Die Vermögen in Deutschland sind ungleich verteilt. Da ist Deutschland den USA auf den Fersen in punkto Ungleichheit. Die Kapitaleinkünfte steigen seit Jahren stärker als die Gehälter der Arbeitnehmer, obwohl diese immer flexibler und immer besser ausgebildet sein müssen.

Die Wirtschaft wächst, die Steuern sprudeln, die Arbeitslosigkeit ist niedrig, es gibt die Rente mit 63. Objektiv läuft es in Deutschland.

Bedford-Strohm: Es geht dem Land gut, wenn wir die Wirtschaftskraft betrachten. Aber wir müssen auf die Menschen blicken, die das erwirtschaften. Zu viele verdienen brutto weniger als 2000 Euro. In den Großstädten können solche Menschen weder die horrenden Mieten bezahlen noch ihren Kindern eine Perspektive bieten. Unserem Land geht es nicht so gut, wie oft pauschal behauptet wird. Es ist nicht mehr zu rechtfertigen, dass so viele Menschen nicht vom wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands profitieren.

Es gibt den Mindestlohn.

Bedford-Strohm: Der Mindestlohn war ein wichtiger Schritt. Aber der reicht nicht aus. Der Mindestlohn müsste höher sein. Millionen Arbeitnehmer können in diesem Land nichts ansparen. Im reichen Deutschland wird von ganz vielen Menschen für unter zehn Euro die Stunde gearbeitet. Jeder dritte Job im Osten und jeder fünfte Job im Westen ist davon betroffen. Das ist mit dem Anspruch einer sozialen Marktwirtschaft nicht vereinbar. Deutschland hat im europäischen Vergleich zu viele Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten. Gute Arbeit muss gut bezahlt sein, das ist leider oft nicht der Fall. Die Politik muss sich mit diesem Missstand dringend beschäftigen.

Bei 8,84 Euro liegt momentan der Mindestlohn. Wie hoch müsste er sein?

Bedford-Strohm: Ich hüte mich davor, einen bestimmten Betrag quasi mit bischöflichem Segen zu versehen. Für die Höhe des Mindestlohns gibt es eine Expertenkommission. Der Staat und die Wirtschaft sollten aber bedenken: Es gibt genug empirische Beispiele, die zeigen, dass Unternehmen erfolgreicher sind, wenn sie soziale und ökologische Belange zu Kernanliegen ihrer Unternehmensstrategie machen. Die Wirtschaft muss den Menschen dienen. Die Maximierung der Gewinne kann nicht das Hauptziel sein. Die Kirche mischt sich parteipolitisch nicht ein, aber in dieser einen Frage sind wir hochpolitisch: Das Thema soziale Gerechtigkeit muss im Bundestagswahlkampf eine zentrale Rolle spielen.

Die Deutschen zahlen europaweit fast die höchsten Steuern. Finden Sie das auch ungerecht?

Bedford-Strohm: Ich stelle fest, dass die gegenwärtigen Steuern der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands keinen Schaden zufügen. Wir brauchen ein Steuerniveau, das dem Staat ermöglicht, seinen wichtigen Aufgaben auch wirklich nachzukommen.

Wer ist nach Ihrer Definition arm?

Bedford-Strohm: Armut ist nach unserer Definition relative Armut. Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verdient, ist einem Armutsrisiko ausgesetzt. Wir sollten aber auch jenseits der Statistiken genau hinsehen. Die Ursachen für Armut sind sehr unterschiedlich. Armut kann verursacht sein durch fehlende Bildung, durch Krankheit, aber eben auch dadurch, dass Menschen einfach Pech im Leben gehabt haben und dadurch in prekäre Verhältnisse gerutscht sind. Der Staat kann hier viel mehr tun.

Zum Beispiel?

Bedford-Strohm: Wenn durch mehr staatliche Aufstockung dort besser bezahlt werden kann, wo sehr wenig verdient wird, dann ist das ein erster konkreter Schritt. Mehr Bildung und Qualifizierung für besser bezahlte Tätigkeiten ist ein weiterer Hebel. Der Staat soll Arbeit finanzieren, nicht Arbeitslosigkeit.

Auch der Kirchentag Ende Mai in Berlin und Wittenberg wird politisch: Ex-US-Präsident Barack Obama wird mit Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem Brandenburger Tor auftreten. Dass Merkel da eine geradezu perfekte Bühne im Bundestagswahlkampf bekommt, stört Sie nicht?

Bedford-Strohm: Ich habe Verständnis dafür, wenn manche es kritisch sehen, dass es diesen Auftritt in Wahlkampfzeiten gibt. Ich selber werde alles dafür tun, dass da kein falscher Eindruck entsteht.

Der ehemalige US-Präsident Barack Obama.
Der ehemalige US-Präsident Barack Obama. © REUTERS | ALESSANDRO GAROFALO

Wie wollen Sie das machen?

Bedford-Strohm: Ich will, dass bei diesem Auftritt kritische Fragen gestellt werden – an Merkel und Obama. Ich erwarte einen Diskurs und keine Wahlkampfthesen. Und darauf freuen sich mit mir ganz viele Menschen. Das Interesse an der Veranstaltung ist erheblich.

In welcher Rolle kommt Obama?

Bedford-Strohm: Zuallererst als Mensch, der sich als Christ versteht und politische Verantwortung getragen hat. Er ist bekanntlich mit hohen Idealen in die Politik gegangen. Hat er diese Ideale als US-Präsident aufrechterhalten können? Dazu soll er sich äußern. Bei der Veranstaltung in Berlin wird es aber um mehr gehen: um die Perspektiven von Demokratie in einer globalisierten Welt. Und auch darum, dass es sich lohnt, sich politisch einzumischen.