Berlin. Die jüngste Steuerschätzung sind ein Signal an die Politik, dass es keine Ausreden mehr geben kann. Die Steuern müssen endlich runter.

Diese Zahlen muss man zweimal lesen, um sie zu glauben: Wenn die neue Steuerschätzung nur halbwegs stimmt, dann werden Bürger und Unternehmen in Deutschland im Jahr 2020 zusammengerechnet 55 Prozent mehr an Steuern beim Staat abliefern als zu Anfang des Jahrzehnts. Das ist ein Plus von fast 300 Milliarden Euro. 55 Prozent – der Zuwachs der Löhne dürfte im selben Zeitraum nur halb so groß sein.

Die Einnahmen des Staates steigen also seit Jahren in einem Tempo, das man in der Bundesrepublik lange nicht mehr kannte. Auch die von Finanzminister Schäuble am Donnerstag vorgelegte Prognose bestätigt den Trend. Es ist dabei unerheblich, ob die Experten ihre letzte Schätzung von November jetzt um ein paar Milliarden nach oben korrigieren. Auf die große Linie kommt es an. Der Staat kalkuliert, von 2017 an gerechnet, innerhalb von fünf Jahren mit einem Plus von knapp 150 Milliarden Euro oder 20 Prozent.

Politische Debatte erstaunlich verhalten

Eigentlich müsste jetzt ein Aufschrei der Bürger durchs Land gehen. Und die Parteien müssten im Wahljahr längst in einen Wettlauf um die größten Steuersenkungsversprechen eingestiegen sein. Der Staat schwimmt tatsächlich im Geld, er erwirtschaftet zweistellige Milliardenüberschüsse.

Gemessen daran ist die politische Debatte erstaunlich verhalten. Das Entlastungsversprechen von Schäuble und der Union, die für die nächste Wahlperiode eine Reduzierung der Steuerlast um 15 Milliarden jährlich in Aussicht stellen, wirkt angesichts der prall gefüllten Kassen ziemlich mickrig. Die Zögerlichkeit der SPD, die noch immer nicht recht weiß, welche Bürger sie wie entlasten soll, ist kaum nachvollziehbar.

Sicher, nicht jedes Plus beim Fiskus wäre Grund für eine Steuersenkung: Wenn die Wirtschaftsleistung, die Löhne und die Preise steigen, sollte auch der Staat mehr in der Kasse haben. Doch der Steuersegen ist seit Jahren nicht nur außerordentlich groß – er ist auch keineswegs nur der guten Konjunktur zu verdanken, sondern ebenso der jahrelangen Hinhaltetaktik der Politik: Nennenswerte Entlastungen hat es seit 2010 nicht mehr gegeben, eine durchgreifende Steuerreform hat die seit zwölf Jahren regierende Kanzlerin nie in Angriff genommen.

Steuerlast im internationalen Vergleich hoch

Die Folge: Von Minikorrekturen abgesehen werden die Bürger immer noch nach dem Tarif von 2005 besteuert – weil aber die Einkommen seitdem gestiegen sind, rutschen jetzt auch schon fast Normalverdiener in Belastungszonen, die einst Topverdienern vorbehalten waren. Das beschleunigt eine ungute Entwicklung: 1960 musste man das Zwanzigfache des Durchschnittslohns verdienen, um den höchsten Steuersatz zu bezahlen – heute genügt das Anderthalbfache.

Es reicht: Die Steuer- und Abgabenlast ist im internationalen Vergleich zu hoch. Um das zu ändern, ist Geld genug da, selbst wenn ein kluger Finanzminister Mehrausgaben für Investitionen, die Flüchtlingskrise oder die Sicherheit einplant. Eigentlich müsste die Koalition noch vor der Bundestagswahl im September eine Steuerreform anpacken. Weil sie das kaum leisten wird, muss die Frage, wie die Belastung der Bürger reduziert werden kann, eine zentrale Rolle im Wahlkampf spielen.

Die Instrumente liegen auf der Hand: Den Solidaritätszuschlag zügig abzubauen, wäre eine erste Maßnahme. Hinzukommen müssen Eingriffe in den Steuertarif, damit vor allem kleinen und mittleren Einkommensbeziehern spürbar mehr Netto bleibt. Und der Spitzensteuersatz darf erst bei höheren Einkommen greifen. Es gibt keine Ausreden mehr: Wann, wenn nicht jetzt, wäre es an der Zeit für eine wirksame Steuerentlastung?