Berlin. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte liefert täglich Opferzahlen aus Syrien. Wie arbeitet die wirkungsvolle Initiative?

Opferzahlen, Schilderungen von Fassbomben- und Giftgasangriffen: Seit Ausbruch des Syrienkriegs im März 2011 liefert die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte nahezu täglich Zahlen von Opfern in dem Bürgerkriegsland und berichtet über Gräueltaten. Medien weltweit stützen ihre Berichterstattung maßgeblich auf diese Meldungen.

Auch im Fall des mutmaßlichen Giftgasangriffs in dem Ort Chan Scheichun, der den US-Präsidenten Trump zu seinem Vergeltungsschlag veranlasste, bezogen sich Medien weltweit auf die von der Beobachtungsstelle recherchierten Opferzahlen.

Tragende Rolle bei weltweiter Berichterstattung

Bei dem mutmaßlichen Luftschlag mit dem Nervengas Sarin, das die Atemwege lähmt und zum Herzstillstand führt, starben vor einigen Wochen demzufolge 86 Menschen, darunter viele Kinder. „Sogar wunderschöne Babys wurden bei dieser barbarischen Attacke grausam ermordet“, sagte US-Präsident Trump später in seiner Erklärung für den Beschuss des syrischen Militärstützpunkts mit 59 Tomahawk-Raketen.

Einwohner der Stadt Dschisr asch-Schughur in der Provinz Idlib, April 2015.
Einwohner der Stadt Dschisr asch-Schughur in der Provinz Idlib, April 2015. © REUTERS | © Ammar Abdullah / Reuters

Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte spielt bei der weltweiten Berichterstattung eine tragende Rolle: Mehr als 180.000 englischsprachige Berichte listet Google-News auf, die als Quelle das „Syrian Observatory for Human Rights“ (SOHR) nennen.

Diese Macht zur Meinungsbildung ruft Kritiker auf den Plan und wirft Fragen auf: Wie zuverlässig und belastbar sind die Schilderungen des SOHR? Wie und wer arbeitet für die Organisation? Warum verlassen sich NGOs, Fernsehsender, Nachrichtenagenturen, Print-Medien und sogar die UN auf die Beobachtungsstelle?

Wer führt die Beobachtungsstelle?

Der Name Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (www.syriahr.com) erweckt den Eindruck, dass der Organisation ein breiter Stab von Mitarbeitern angehört. Tatsächlich ist sie ein Ein-Mann-Betrieb. Die Beobachtungsstelle sitzt fernab von Syrien, inmitten der englischen Insel in Conventry – keine andere englische Stadt ist so weit von der Küste entfernt.

Hier laufen die Fäden bei dem Exil-Syrer Rami Abdul Rahman zusammen. Auch wenn sich Nachrichtenagenturen auf diesen Namen berufen, wenn sie die neuesten Horror-Nachrichten aus dem zerfallenen Staat am Mittelmeer berichten, schützt sich der Chef der Organisation nur mit diesem Pseudonym: Bürgerlich heißt der aus der syrischen Stadt Baniyas stammende Aktivist Osama Suleiman.

Was trieb den Chef der Beobachtungsstelle nach England?

Der Nachrichtenagentur Reuters sagte Suleiman, dass Familienangehörige seiner Frau vom Assad-Regime verhaftet und geschlagen worden seien. Nach eigenen Angaben saß er selbst als Oppositioneller einige Male in syrischen Gefängnissen, floh im Jahr 2000 und gründete sechs Jahre später das SOHR. Das ist zumindest seine Version.

Denn es gibt auch noch eine andere: Die erzählt Mousab Azzawi, ein Arzt aus London. Er behauptet in einem Offenen Brief aus dem Jahr 2012, Suleiman sei lediglich ein Mitarbeiter gewesen, der Benutzernamen und Passwörter geändert habe und so die Website übernahm.

Azzawi gründete am 17. August eine neue Website mit www.syriahr.org. Das Zerwürfnis führte damit zu der absurden Situation, dass zeitweise zwei Syrische Beobachtungsstellen für Menschenrechte im Wettbewerb miteinander standen: Eine mit Sitz in London, eine andere in Conventry. Mittlerweile existiert nur noch der ursprüngliche Internetauftritt der Beobachtungsstelle www.syriahr.com.

Auf mehrere Anfragen unserer Redaktion via E-Mail und Telefon reagierte Osama Suleiman nicht. Mit Sicherheit lässt sich aber sagen, dass die Website seit dem Jahr 2006 registriert ist, wie eine Datenbankabfrage zeigt.

Wie arbeitet die Beobachtungsstelle?

Ein Foto, datiert auf den 4. April 2017 von syrischen Regierungsgegnern der Gruppe Edlib Media Center.
Ein Foto, datiert auf den 4. April 2017 von syrischen Regierungsgegnern der Gruppe Edlib Media Center. © dpa | Uncredited

Auch wenn sich Osama Suleiman mittlerweile weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat, ließ sich der 45-Jährige noch vor einigen Jahren zu Hause in Conventry besuchen. Auch die ehemalige England-Korrespondentin unserer Redaktion, Jasmin Fischer, traf den Exil-Syrer in seiner neuen Heimatstadt. Im Gespräch erklärte er ihr, wie er an seine Informationen aus den umkämpften Gebieten komme.

Er greife dabei auf etwa 230 Quellen zurück, dazu zählten Informanten aus verschiedenen Lagern, Rebellen, Sanitäter in Krankenhäusern, angeblich sogar abtrünnige Soldaten der Regierungstruppen.

Sein Ziel sei es, alle Toten zu zählen. „Wir sind auf der Seite des Volkes, gegen jeden der sich gegen das Volk richtet“, sagte Suleiman dem ARD-Magazin „Weltspiegel“. Er habe Feinde beim Assad-Regime, in der Opposition, bei den Dschihadisten und auch in Russland und im Iran, sagt der sunnitische Muslim.

Die Informationen erreichen Suleiman über das Handy oder den Computer. Informanten rufen ihn an oder schicken Videos, sagt er. Im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Reuters betont er, dass die Quellen meist schon mehrere Jahre für ihn arbeiteten. Nur wenn er Aussagen mit weiteren Quellen gegengecheckt habe, gingen die Meldungen heraus. Dann veröffentlicht er sie auf seiner Website.

Wer nutzt die Informationen?

Internationale Nachrichtenagenturen wie Reuters oder AP, Fernsehsender wie CNN oder Al Jazeera, aber auch NGOs wie Amnesty International arbeiten mit seinen Informationen. Auch die Deutsche Presse-Agentur zitiert die Opferzahlen und Berichte regelmäßig. „Unsere Nahost-Korrespondenten stehen fast täglich in direktem Kontakt mit dem Leiter der Beobachtungsstelle“, sagt dpa-Sprecher Chris Melzer unserer Redaktion.

Er hebt die schwierigen Bedingungen hervor, in Syrien an verlässliche Informationen zu kommen. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte ist dabei nicht die einzige Quelle. „Die Verifikation aller Informationen aus dem Land – auch die der Menschenrechtsbeobachter – erfolgt nach den üblichen journalistischen Standards. Dabei stellen wir unter anderem folgende Fragen: Wie plausibel, logisch und stimmig ist die Information? Gibt es Widersprüche? Wie viele Einzelheiten werden genannt? Zudem erfolgt eine Abgleichung mit anderen Quellen.“

Generell habe die dpa immer wieder die Erfahrung gemacht, dass die Menschenrechtsbeobachter im Vergleich zu andere Quellen zuverlässiger und – etwa bei Opferzahlen – zurückhaltender seien. „Mehrfach in der Vergangenheit sind ihre Informationen im Nachhinein durch andere Quellen bestätigt worden. Das ist der Hauptgrund, warum die Menschenrechtsbeobachter von vielen Medien regelmäßig als Quelle benutzt werden“, sagt Melzer.

Auch Amnesty International schätzt die Quelle. „Im Allgemeinen sind die Informationen über Opferzahlen definitiv einige der besten, insbesondere durch die Details und Umstände der Angriffe“, sagte Neil Sammonds, Nahost-Experte bei Amnesty, der „New York Times“.