Brüssel. Der EU-Gipfel tagt erstmals ohne Großbritannien. Unter den „EU27“ herrscht Einigkeit, dass es im Streit um die Finanzen kein Nachgeben gibt.

  • Bei einem Sondergipfel haben sich die EU-Mitgliedsstaaten auf Leitlinien für die Brexit-Verhandlungen geeinigt
  • Es geht zunächst die Interessen der 3,2 Millionen EU-Ausländer, die in Großbritannien leben
  • Über die genaue Höhe der Rechnung für Großbritannien ist noch keine Einigung erzielt

„Bevor wir über die Zukunft reden, müssen wir uns mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen“, sagt Donald Tusk. Der Pole leitet an diesem sonnigen Tag zum ersten Mal einen Gipfel der „EU27“. Zwar haben sich die Partner schon mehrfach ohne die britische Premierministerin Theresa May getroffen. Aber das waren informelle Zusammenkünfte, keine beschlussfassenden Sitzungen des Europäischen Rats der Staats- und Regierungschefs, oberste Kommandobrücke der Europäischen Union.

Doch für den Fall, dass einer den Austritt ankündigt, sieht der Lissabon-Vertrag für alle diesbezüglichen Beratungen ausdrücklich Europäische Räte in der Minus-eins-Formation vor. Mit anderen Worten: Es wird ernst mit dem Brexit.

15 Minuten für die Verabschiedung der Leitlinien

Tusk gehört zu denen, die dem Vorgang nichts Positives abgewinnen können. „Damage control“ – Schadensbegrenzung – ist aus seiner Sicht das Beste, was sich angesichts der misslichen Entscheidung des Vereinigten Königreichs erreichen lässt. Dafür allerdings fühlen sich die 27 bestens gerüstet, weil ungewöhnlich einig in der Sache.

Die Verabschiedung gemeinsamer „Leitlinien“ für die Verhandlungen mit den Briten ging am Sonnabend in Rekordzeit – 15 Minuten – per kollektivem Applaus über die Bühne. Der Plan entspricht der nüchternen Ansage der Bundeskanzlerin.

Angela Merkel hatte diese Woche den Briten die hässliche Vokabel „Drittstaat“ zugerufen und sie vor „Illusionen“ gewarnt. Von Bestrafung oder Abschreckung ist keine Rede, wohl aber von robuster Interessenwahrung durch die Aufteilung in zwei Etappen. In der ersten Phase soll es bis zum Herbst nur um die Scheidungsmodalitäten gehen, dann erst kommt die künftige Partnerschaft zur Sprache.

EU-Ausländer sollen bisherige Rechte behalten

Da wären also zunächst die Interessen der 3,2 Millionen EU-Ausländer, die derzeit in Großbritannien leben, darunter rund einhunderttausend Deutsche. Sie sollen nach den Vorstellungen der EU ihre bisherigen Rechte auf Sozialversicherung, Zugang zum Arbeitsmarkt, Schulen und Unis behalten.

Und zwar nicht nur bis zum Brexit-Termin, sondern auch danach, sofern sich die Betreffenden vor dem Ausscheiden des Vereinigten Königreiches als Unionsbürger dort niedergelassen haben.

Alsdann die Finanzen. Ein besonders heikles Thema, nachdem die Brexit-Befürworter in Großbritannien ihren Bürgern unhaltbare Versprechungen über riesige Einsparmöglichkeiten gemacht hatten. Die Kosten seien „eindeutig“ eine vorrangige Trennungsfrage, erklärte die Kanzlerin.

Keine Einigung über die Höhe der Rechnung

Über die genaue Höhe der Rechnung für Großbritannien ist noch keine Einigung erzielt. Aber London, so die gemeinsame Linie, soll für alles anteilig aufkommen, was es als Mitglied an EU-Ausgaben (auch künftigen) mitveranlasst hat, dazu für Zusatzkosten durch die Abnabelung.

Das wird teuer. Offizielle Zahlen gibt es noch nicht, die seit Wochen kursierenden 60 Milliarden Euro ergäben sich aus „vorsichtigen Einschätzungen“, meint Kommissionschef Jean-Claude Juncker. Was da alles zu Buche schlagen kann, zeigt das Beispiel der beiden EU-Ämter, die derzeit noch ihren Sitz in London haben.

Das ist zum einen die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA), mit immerhin 800 Mitarbeitern, und zum anderen die – erheblich kleinere – Bankenaufsicht EBA. Um beide bewerben sich mehrere Mitgliedstaaten auf dem Kontinent. Deutschland würde die EBA gern ins Finanzzentrum Frankfurt holen, wo schon die Europäische Zentralbank (EZB) ihr Zuhause hat.

Erheben Briten Anspruch auf 20 Milliarden?

Das Arzneimittelamt, für die Genehmigung neuer Medikamente zuständig, hat nach Darstellung von Haushaltsexperten des Europaparlaments für seinen Londoner Dienstsitz einen nicht vorzeitig kündbaren Mietvertrag geschlossen. Der laufe bis 2039, für eine Gesamtmiete von fast 350 Millionen Euro. Aus EU-Sicht wäre das Teil der Austrittszeche, die London zu begleichen hätte. Dort, steht zu vermuten, sieht man das anders.

Die Briten haben im Übrigen nach unbestätigten Berichten errechnet, dass ihnen umgekehrt rund 20 Milliarden aus dem gemeinsamen EU-Vermögen zustehen, von Liegenschaften bis zum Weinkeller der Kommission. Was sie am Ende zahlen müssen, hängt laut EU-Chefunterhändler Michel Barnier auch davon ab, bei welchen Bereichen sie künftig an EU-Förderung andocken wollen.

Jenseits des Brexits warten viele ungelöste Probleme

Sorgen machen jenseits der Brexit-Verhandlungen vor allem Ungarn und Polen, beide regiert von rechten Parteien mit stark europaskeptischem Einschlag. Beide, die ungarische Fidesz und die polnische PiS, fühlen sich zu einer Umgestaltung von Staat und Gesellschaft ermächtigt, die mit dem EU-Verständnis von Recht und Demokratie nicht vereinbar ist.

Beide konnten bislang von ihrem autoritären Kurs nicht abgebracht werden. Die nächste Baustelle wartet schon.