Masar-i-Sharif. Mehr als 140 Soldaten sind bei einem Taliban-Angriff getötet worden. Afghanische Armee und Regierung verlieren immer mehr an Einfluss.

Der alte Händler in einer Seitengasse von Masar-i-Sharif erlebte während der vergangenen Jahrzehnte schon zu viele Höhen und Tiefen, um sich angesichts des blutigen Angriffs auf die wichtigste Kaserne der afghanischen Streitkräfte im Norden Afghanistans großartig aufzuregen. „Das ist die Rache der Talibanmilizen für ihre Verluste der vergangenen Wochen“, sagt Jemal Khan.

Die Provinzregierung, deren mächtiger Gouverneur Atta Nur Verhandlungen mit Taliban ablehnt und Präsident Ashraf Ghani gerne wegen Unfähigkeit im Kampf gegen die Milizen anprangert, ging seit Freitag auf Tauchstation. Lediglich ein Polizeioffizier ließ sich zu einem lakonischen Satz hinreißen: „Das ist Afghanistan. Niemand kann solche Angriffe verhindern.“

Angreifer überwanden zwei Kontrollpunkte

Das scheint zumindest für einen großen Teil der mehr als 300.000 Mann starken afghanischen Polizei und Streitkräfte zu gelten. Sie können nicht einmal die eigenen Stützpunkte schützen. Mehr als 140 Soldaten wurden getötet, eine noch höhere Anzahl verletzt, als am Freitag zwei Fahrzeuge mit Talibankämpfern in Armeeuniformen seelenruhig durch das erste Eingangstor des 209. Shaheen nahe dem Flughafen von Masar-i-Sharif fuhren.

Sie zeigten den Bewachern einen angeblichen Verletzten. Anschließend attackierten sie die Soldaten des zweiten Kontrollpunkts, die sich wachsamer zeigten.

Wild um sich schießend stürmten die zehn zu selbst ernannten Gotteskrieger danach Richtung Kantine und Moschee der Kaserne und schossen auf die überwiegend unbewaffneten Soldaten. Ein Attentäter verschanzte sich im Munitionslager und wurde nach fast fünf Stunden als letzter von einer Spezialeinheit überwältigt.

Zahlreiche Tote bei verheerendem Taliban-Anschlag

weitere Videos

    Die 30.000 Mitglieder umfassende Truppe aus Kämpfern des Innenministeriums, des Verteidigungsministeriums und der afghanischen Staatssicherheit dient seit dem Abzug der meisten NATO-Truppen Ende Dezember des Jahres 2014 als eine Art Feuerwehr – und sie scheint die einzige Einheit des Landes zu sein, die den 30.000 bis 40.000 Talibankämpfern am Hindukusch noch die Stirn bieten kann.

    Freilich verschätzen sich auch die ausländischen Militärs. Im letzten Lagebericht des Berliner Verteidigungsministeriums an den Bundestag von Mitte April wird die Bedrohungslage in Masar-i-Sharif mit Grün für Niedrig markiert. Die Region um die Stadt Kunduz gilt dagegen als hoch gefährlich. „Der Schwerpunkt der Operationsführung im Kampf gegen regierungsfeindliche Kräfte liegt in Nordafghanistan, stellt das Berliner Verteidigungsministerium fest.

    Afghanische Regierung verliert zunehmend an Macht

    Die afghanischen Streitkräfte verbuchten mit Unterstützung von US-Drohnen und NATO-Beratern in jüngster Zeit in der Region einige Erfolge. Mindestens zwei sogenannte Taliban-Schattengouverneure sollen in den vergangenen Wochen umgekommen sein. Die Wiedergeburt der Taliban und den Niedergang auf Seiten der Regierungstruppen stoppte dies nicht. Denn die Taliban überraschten am Freitag während des Mittagsgebets just die Soldaten, die in der örtlichen Militärzentrale stationiert waren.

    Laut dem letzten SIGAR (Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction) an den US-Kongress kontrollierte Kabul Anfang des Jahres nur noch 57 Prozent der 407 Distrikte Afghanistan – 15 Prozent weniger als das Territorium, über das Präsident Ashraf Ghani noch Ende 2015 herrschte.

    Viele afghanische Soldaten desertieren

    Die Taliban, die während der letzten sechs Monate nicht einmal die übliche Winterpause einlegten, sind wieder da. Gleichzeitig sinkt die Kampfmoral der afghanischen Sicherheitskräfte, die vor dem eiligen Abzug westlicher Truppen im Eiltempo durch qualitativ fragwürdige Trainingsschnellkurse der NATO geschleust wurden. Rund 7000 Soldaten fielen im Jahr 2016, fast 12.000 wurden verwundet.

    Die Zahl der Deserteure ist so hoch, dass sie geheim gehalten wird. Außerdem untergraben Schlendrian, Korruption und Vetternwirtschaft die Kampfkraft. In die Brandherde werden nur Soldaten und Offiziere geschickt, die nicht ihre Vorgesetzten schmieren können. Soldaten und Polizei beklagten sich während der vergangenen Monate häufig über Mangel an Munition im Kampf gegen die Taliban.