Berlin. Anschläge in Istanbul, St. Petersburg, Stockholm: Mehrfach kamen Täter aus Zentralasien. Was steckt hinter dem Terror aus dem Osten?

Im Februar dieses Jahres tauchte Rahmat Akilow ab. Sein Name stand mit 10.000 anderen Personen auf einer Liste der schwedischen Polizei. Akilow floh vor den Behörden, die ihn abschieben wollten. Zurück nach Usbekistan, die Heimat des 39 Jahre alten Mannes, wo seine vier Kinder und die Frau leben. 2014 war Akilow allein nach Schweden eingereist, wie so viele Migranten aus Zentralasien – vor allem Usbeken, Kirgisen, Tadschiken.

Dieser Lastwagen raste in der Stockholmer Innenstadt erst in eine Menschenmenge und dann in ein Kaufhaus.
Dieser Lastwagen raste in der Stockholmer Innenstadt erst in eine Menschenmenge und dann in ein Kaufhaus. © dpa | Anders Wiklund

Er beantragte Asyl, das abgelehnt wurde, legte Widerspruch ein, der erfolglos blieb. Akilow schlug sich durch mit Jobs auf Baustellen, fiel weder Nachbarn noch Kollegen als radikal auf. Seit ein paar Monaten war er arbeitslos. Und als sein Name auf der Abschiebe-Liste stand, verschwand Akilow vom Radar der Behörden. Er tauchte erst am 7. April 2017 wieder auf – als er mit einem gestohlenen Lastwagen durch eine Einkaufsstraße in Stockholm raste, vier Menschen tötete und viele verletzte.

Kurz nach der Tat verhafteten schwedische Polizisten den Mann in einem Ort nördlich von Stockholm. Videomaterial von Überwachungskameras half den Ermittlern. Akilow soll die Tat im Verhör gestanden haben. Und er ist laut Ermittlern Sympathisant der Terrororganisation „Islamischer Staat“. Medien berichten, er habe im Gespräch mit der Polizei gegen die „Un-gläubigen“ gehetzt und ein Ende der „Bombardierung Syriens“ gefordert.

Vier Anschläge gehen auf Attentäter aus der Region zurück

Abror Azimov, der mutmaßliche Attentäter von St. Petersburg.
Abror Azimov, der mutmaßliche Attentäter von St. Petersburg. © imago/ITAR-TASS | Anton Novoderezhkin

Stockholm ist einer von mehreren Terroranschlägen, die in den vergangenen Monaten für Schlagzeilen sorgten. Eine Woche vor der Bluttat in Stockholm zündete ein Attentäter Bomben in der U-Bahn in St. Petersburg. In der Silvesternacht erschoss ein Mann 39 Menschen in einem Nachtclub in Istanbul, im Sommer 2016 töteten Extremisten 43 Menschen am Flughafen von Istanbul.

Es sind einzelne Beispiele des Terrors in Europa, denen eines gemeinsam ist: Die mutmaßlichen Attentäter kommen aus Zentralasien, fast immer gibt es Verbindungen nach Usbekistan. Die Anschläge lenken die Aufmerksamkeit auf einen weiteren „Hotspot“ der Radikalisierung, neben Nordafrika und dem arabischen Raum. Was steckt hinter dem Terror aus dem Osten?

Wer die Frage beantworten will, muss vordringen in eine Region, die nur selten den Weg in die Aufmerksamkeit Europas findet – dabei sind es Länder, zusammen fast so groß wie die EU, aber mit nicht einmal so vielen Bewohnern wie Deutschland, geprägt von Bergen, Steppen und wenigen Metropolen. Einst waren die Staaten zwischen dem Kaspischen Meer und China Teil des Sowjet-Reichs. Mittlerweile sind sie unabhängig – und doch stehen sie in der Sicherheitspolitik zum Teil der Führung in Russland immer noch nahe.

Schmelztiegel verschiedener Sprachen und Ethnien

Die Kulturen Zentralasiens sind Schmelztiegel verschiedener Sprachen, Ethnien und Religionen. Mehrheitlich leben hier Muslime, die allermeisten gemäßigt. Viele sehen den Islam eher als Alltagsritual denn als politische – geschweige denn islamistische – Agenda. Doch auch Fundamentalisten werden in den Ex-Sowjet-Staaten stärker. Religiöse Gönner aus Saudi-Arabien helfen nach und finanzierten den Bau etlicher Moscheen etwa in Kirgistan. In vielen Staaten regieren Autokraten, die Korruption blüht, gute Arbeit gibt es wenig, die Menschenrechtslage ist fragil bis erschütternd. Amnesty International berichtet von Folter etwa in Usbekistan und Tadschikistan. Ein Mix, der Nährboden bietet für Radikalisierung, sagen Experten.

Es gibt nicht „ein Zentralasien“: Staaten wie Kirgistan oder Kasachstan kooperieren stärker mit Europäern und Amerikanern, etwa bei Bildungsprogrammen oder Bauprojekten. Die Lage ist stabiler als etwa im autokratischen Usbekistan. Doch sind alle diese Länder weit entfernt von Rechtsstaaten nach europäischem Maßstab.

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    Vereinzelnd kam es seit 2000 zu Anschlägen, etliche mutmaßliche Terroristen wurden verhaftet. Und seit einigen Jahren rekrutiert der IS seine Kämpfer auch von hier. Nur schwer lässt sich die Szene durchleuchten, Einblicke geben Sicherheitsexperten, Wissenschaftler aus dem Westen und Forscher, die vor Ort arbeiten.

    3000 Zentralasiaten kämpfen in Syrien und Irak

    Sie schätzen die Zahl der Dschihadisten, die in den vergangenen Jahren von Zentralasien in das Kampfgebiet des IS in Syrien und Irak ausreisten, auf etwa 3000 bis 4000. Somit gehören Länder wie Usbekistan und Kirgistan zu den wichtigen Einzugsgebieten des IS – ebenso wie der Kaukasus, vor allem Tschetschenien, aber eben auch die EU, aus der rund 5000 Dschihadisten ausgereist sein sollen. Sie nennen sich „Al-Bukhari-Brigade“ oder „Katibat al-Tauhid wal Dschihad“. Nicht alle Zentralasiaten zieht es zum IS – vor allem Usbeken kämpfen dort auch für konkurrierende Al-Qaida-Ableger. Ihr Fernziel ist auch: ein „Kalifat“ in ihrer Heimat.

    Die Islamisten waren schon zu Sowjetzeiten auf dem Vormarsch. Doch das Ende des Sowjetregimes hinterließ ein ideologisches Vakuum, eine Identitätslücke in einer Gesellschaft im Umbruch. Wissenschaftler wie Uwe Halbach von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin (SWP) analysierten eine „Wiedergeburt“ der theologischen Islamlehre in den mehrheitlich von Muslimen bewohnten zentralasiatischen Staaten, eine „späte Rache“ sowjetischer Religionspolitik, die auch Islamschulen unterdrückt und den Glauben auf ein unpolitisches Brauchtum reduziert habe.

    In den 1990er Jahren, mitten in dieser Umbruchphase, gründeten Radikale die „Islamische Bewegung Usbekistan“ (IBU). Zunächst unterstützte sie die Taliban in Afghanistan und Pakistan. Mitte 2014 flohen ihre Anhänger vor dem pakistanischen Militär aus Waziristan zurück nach Afghanistan. Dort legte die IBU-Führung Ende Juli 2015 den Treueid auf den IS ab.

    Kriminelle schließen sich dem IS an

    In Propaganda-Videos rufen sie von Syrien aus die Muslime in ihrer Heimat oder in Russland und der EU zum Kampf gegen die Regierungen und die „Ungläubigen“ auf, über Facebook oder Telegram vernetzen sie sich. Der Dschihadismus funktioniert international nach gleichen Mustern – und doch hat er regionale Besonderheiten.

    Terroristische Organisationen wie IS und al-Qaida speisen sich zu einer Vielzahl aus früheren Kriminellen. Das gilt nach Ansicht von Sicherheitsleuten und Experten wie dem US-Forscher Noah Tucker im hohen Maße auch für Dschihadisten aus Zentralasien. Etliche, die heute bei der IBU oder dem IS kämpfen, waren nach Ende der Sowjetzeit in kriminellen Netzwerken aktiv, handelten mit gestohlenen Waren, Drogen oder Waffen.

    Auch Kleinkriminelle wechselten in der Vergangenheit zu den Dschihadisten. Das Motiv ist häufig nicht die Religion, sondern: Geld verdienen im „Heiligen Krieg“ – durch Sold und Kriegsbeute wie etwa Häuser, aus denen Jesiden fliehen mussten. „Trophäen sammeln“, wie es heißt. Und endet der Dschihad für sie, wechseln manche einfach zurück in kriminelle Organisationen.

    Häufig waren die meist jungen Männer aus den Staaten Zentralasiens nicht erst in Syrien mit Gewalt konfrontiert, sondern schon in ihrer Heimat. Islamisten mischten im Krieg in Tadschikistan mit. In manchen Gegenden flammten mehrfach Konflikte unter ethnischen Gruppen auf, auch Willkür von Seiten des Staates gehören zum Alltag der Menschen in manchen Regionen von Tadschikistan oder Usbekistan. Es haben sich über die Jahre Gewaltkulturen etabliert.

    Verbot und Verhaftungen im Kampf gegen Extremisten

    Somit gelten IS-Kämpfer aus Usbekistan oder Tadschikistan als erfahren an Waffen und Militärtechnik im Vergleich etwa zu Ausreisenden aus Deutschland oder Frankreich. Viele kämpften vor dem Bürgerkrieg in Syrien schon in Afghanistan oder Pakistan. Denn nach Afghanistan vertrieb die usbekische Regierung mit der Härte eines Polizeistaates etwa Terroristen der IBU.

    Überhaupt gilt: Die Staaten Zentralasiens reagieren zunehmend mit Verboten von extremistischen Organisationen auf die Bedrohung durch den Terror, inhaftieren Anhänger des IS und Moscheen überwachen. Wissenschaftler vor Ort kritisierten, dass rigide Maßnahmen und im Vergleich zu Deutschland drakonische Haftstrafen gegen mutmaßliche Islamisten eher zum Ziel haben, die Opposition in den Autokratien wie Usbekistan zu unterdrücken.

    Doch auch die Bekämpfung von Armut oder der Zugang zu Bildung sind kein Garant für Sicherheit. In den Reihen der Extremisten finden sich längst nicht nur „Verlierer“, sondern nach Recherchen des kasachischen Forschers Erlan Karin auch ein hoher Anteil besser Gebildeter. Kampf gegen Radikalisierung muss wie in Deutschland auch in Regionen wie Zentralasien auf mehreren Ebenen ansetzen: Sicherheit, Bildung, persönliche Motive.

    Prävention steckt noch in den Anfängen

    Anders als in USA und Europa wächst erst allmählich in Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen die staatlich geförderte Deradikalisierung in Zentralasien, um die komplexe post-sowjetische Gesellschaft mit modernen Präventionskonzepten auszustatten. Usbekistan etwa lässt Imame schulen, Kirgistan legt Programme für inhaftierte Extremisten auf.

    Nur lässt sich das Problem einzelner radikalisierter Islamisten nur zu einem Teil in Zentralasien lösen. Denn sehr viele junge Menschen aus diesen Ländern leben in Russland – und Europa. Wer durch die Straßen Moskaus läuft, sieht junge Tadschiken, Kirgisen oder Usbeken auf den Baustellen. Laut Experten arbeiten zwischen drei und vier Millionen Zentralasiaten in Russland. Manche sind vor Gewalt geflohen. Die allermeisten aber sind Migranten, die ausbrachen aus der lahmenden Wirtschaft ihrer Heimatländer mit der Hoffnung auf Jobs in Russlands Metropolen. So wie auch der Stockholmer Attentäter als Arbeiter in Schweden anheuerte. Die Fluglinien zwischen den Hauptstädten Zentralasiens und den russischen Städten sind etabliert, reisen ohne Visum ist möglich.

    Kabinett bringt schärfere Abschiebe-Regeln auf den Weg

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      Für manche bringt die Ausreise Erfolge. Allein 2016 haben Arbeitsmigranten aus Zentralasien laut Internationalen Zentrum zur Entwicklung von Migrationspolitik in Wien rund sechs Milliarden US-Dollar in die Heimat geschickt. Doch wer ohne Perspektive in den Trabanten-Vorstädten Moskaus landet, sucht nach Auswegen. Manche ins Extreme. Usbeken und Tadschiken werden aus der Gesellschaft gedrängt, immer wieder sind sie Ziel von Angriffen russischer Neonazis. Ihre Lobby in Russland ist marginal. Sie sind vor allem eines: billige Arbeiter.

      Nur wenige Zentralasiaten in Deutschland

      Manche versuchen ihr Glück dann in Europa – vor allem in Skandinavien. In Deutschland ist die Zahl der Asylsuchenden aus Zentralasien gering. Sie fallen laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nicht unter die Top-10-Herkunftsstaaten, nur einige Tausend Usbeken und Tadschiken und ein paar mehr Kasachen leben laut Statistischem Bundesamt in Deutschland.

      Denn eine irreguläre Einreise nach Europa ist nur mit teuren Schleusern möglich, ihre Chance auf Asyl in der EU gering. Wer einmal hier ist, wird abgeschoben – oder taucht ab. So wie Rahmat Akilow in Schweden. Und bei einzelnen von ihnen wächst aus dem Frust und dem Scheitern eine Radikalität.

      Auch wer sich für den Dschihad in Syrien entschied, hatte es lange Zeit sehr leicht: Eine Ausreise über die Türkei ist sowohl aus Europa als auch aus Russland leicht. Erst seit 2015 wird die Grenze ins Kriegsgebiet stärker überwacht. In diesem Jahr soll auch der Stockholm-Attentäter Akilow laut Medienberichten in Schweden und Usbekistan versucht haben, nach Syrien auszureisen. Er wurde an der Grenze zur Türkei von Polizisten gefasst und zurück nach Schweden abgeschoben.

      Usbeken wollen Europäer gewarnt haben

      In Schweden hatte er sich nach Angaben der usbekischen Regierung über eine islamistische Gruppe von Tadschiken radikalisiert. Auf Facebook verlinkte Akilow extremistische Videos und Bilder, zeigte Sympathie für den IS. Viele seiner Facebook-Kontakte sind augenscheinlich radikale Islamisten.

      Der Mann, der Anfang April mit einem Lastwagen vier Menschen in Stockholm tötete, war den Sicherheitsbehörden in seiner Heimat offenbar bekannt, auch hier steht sein Name seit einiger Zeit auf einer Liste: als Unterstützer religiöser Extremisten. Akilow soll unter Usbeken über das Internet für den Dschihad geworben und zu Gewalt aufgerufen haben. Angeblich, so ließ der usbekische Außenminister nach dem Attentat verlauten, hätten die usbekischen Behörden die Sicherheitsleute in der EU sogar vor Akilow gewarnt. In Schweden, so sagen es die Polizeichefs, will man davon nichts gewusst haben.