Istanbul. Der türkische Präsident Erdogan trommelt für eine Verfassung, die ihm größte Vollmachten gewährt. Dabei schreckt er vor nichts zurück.

Wie ein Fels in der Brandung stellt sich Mertkan Akay der Welle der Pendler entgegen, die am Anleger von Kadiköy von Bord der Bosporus-Fähren strömen. „Hayir“ ruft der Rentner mit fester Stimme den Menschen entgegen. Hayir steht in großen Buchstaben auf der roten Weste, die er trägt, Hayir sagen die Flugblätter, die er verteilt. Hayir heißt Nein – das ist Mertkans Motto für die Volksabstimmung am 16. April. „Einer muss es doch machen“, sagt der pensionierte Ingenieur auf die Frage, warum er jeden Tag stundenlang hier am Schiffsanleger in Istanbul steht. „Erdogan will mit dem Referendum die parlamentarische Demokratie abschaffen und eine Art Diktatur errichten“, sagt der 62-Jährige. „Das können wir doch nicht einfach hinnehmen!“

„Wir brauchen eine starke Führung“, sagt eine Frau

Mertkan Akay protestiert mit drei Mitstreitern unter freiem Himmel. Ein paar Schritte weiter geht es geruhsamer zu. Fünf Damen sitzen in einem Plastikzelt, das vor Sonne, Wind und Regen schützt. Auf dem Tisch vor ihnen türmen sich Broschüren auf. Von einem großen Plakat grüßt Premierminister Binali Yildirim. Hier wird für „Evet“ geworben, ein Ja zur geplanten Verfassungsreform.

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    Zwei der Damen tragen bunte Kopftücher, eine stellt mit einer schwarzen Verschleierung ihre islamisch-fundamentalistischen Wertvorstellungen zur Schau. Zwei der Frauen geben sich mit offenem, langem Haar eher säkular. An dem Tisch mit dem Werbematerial hängt eine große türkische Nationalflagge. Man merkt: Die Ja-Kampagne der Regierungspartei AKP will ein möglichst breites Wählerspektrum ansprechen. „Das Präsidialsystem ist das Beste für unser Land“, sagt einer der Frauen. „Wir brauchen eine starke Führung, und dafür steht unser Präsident Recep Tayyip Erdogan.“ Eine andere ergänzt: „Nur mit ihm kann die Türkei wirtschaftlich vorangehen und den Terror besiegen.“

    Anhängerinnen des Präsidenten jubeln bei seiner Rede in Erdogans Heimatstadt Rize.
    Anhängerinnen des Präsidenten jubeln bei seiner Rede in Erdogans Heimatstadt Rize. © dpa | Lefteris Pitarakis

    Was Erdogans Präsidialsystem wirklich bedeuten würde, hier erfährt es der Wähler nicht. Er wird mit holzschnittartigen Slogans umworben, von beiden Seiten. „Ich liebe die Türkei und sage Ja“, lautet ein zentraler Wahlspruch der Erdogan-Anhänger. „Nein für meine Zukunft“ steht dagegen neben dem Porträt eines Mädchens auf den Plakaten der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP). Das lachende Mädchen trägt kein Kopftuch, sondern Zöpfe.

    „Atatürks Erbe ist in Gefahr“, sagt ein Oppositioneller

    Ein paar Hundert Meter vom Anleger in Kadiköy sitzt der CHP-Abgeordnete Baris Yarkadas in seinem Büro. Vor den Fenstern im vierten Stock breitet sich ein prächtiges Panorama aus: Der Bosporus glitzert in der Sonne dieses milden Frühlingstages, die Schiffe scheinen über die Meerenge zu schweben. Im Dunst erkennt man am europäischen Ufer die schlanken Minarette der Blauen Moschee und die gewaltige Kuppel der Hagia Sofia.

    Aber Yarkadas hat keinen Blick dafür. Ihn plagen „düstere Gedanken“, so sagt er. Hinter seinem Schreibtisch hängt ein großes Porträt des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. Auf ihn geht die 1923 gegründete CHP zurück. „Atatürks Erbe ist in Gefahr, es geht um den Bestand der Republik“, sagt Yarkadas.

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      Die CHP plädiert deshalb für ein Nein bei der Volksabstimmung. Parteichef Kemal Kilicdaroglu warnt, die „unkontrollierte Anhäufung der Macht“ in den Händen Erdogans werde in eine „Katastrophe“ münden. Auch zahlreiche Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften beteiligen sich an der Nein-Kampagne. Aber die Kritiker des schon jetzt allmächtig scheinenden Präsidenten haben einen schweren Stand.

      Im Zuge der „Säuberungen“ seit dem Putschversuch vom vergangenen Juli ließ Erdogan per Dekret über 140 Medienunternehmen schließen. Fast 150 regierungskritische Journalisten sitzen in Haft. Unter dem Ausnahmezustand, der seit dem Putsch gilt, können die Behörden Versammlungen und Demonstrationen ohne Angabe von Gründen verbieten. „Ein fairer Wahlkampf ist unter diesen Bedingungen nicht möglich“, sagt der CHP-Abgeordnete Yarkadas.

      Das Staatsfernsehen würdigt die Kurdenpartei HDP mit einer Minute Sendezeit

      Ein riesiges „Evet“-Wahlplakat mit Erdogans Konterfei in Istanbul.
      Ein riesiges „Evet“-Wahlplakat mit Erdogans Konterfei in Istanbul. © Getty Images | Chris McGrath

      Das zeigt auch eine Recherche der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“. Danach sendete das Staatsfernsehen TRT in drei Wochen im März 4080 Minuten lang Kundgebungen des Regierungslagers. Auf die CHP entfielen gerade mal 216 Sendeminuten. Und die pro-kurdische Partei HDP kam gerade mal auf eine Minute Sendezeit. Ihr Vorsitzender Selahattin Demirtas, der scharfzüngigste Erdogan-Widersacher, sitzt mit zwölf weiteren HDP-Abgeordneten seit dem vergangenen November in Haft. Seit Ende März befindet er sich im Hungerstreik. Diese Woche wandte sich Demirtas aus der Haft mit einem eindringlichen Appell an die Wähler: „Geht zur Wahl und stimmt mit Nein gegen die Angst – Mut ist ansteckend!“

      Für Erdogan steht viel auf dem Spiel. Es geht es um die absolute Macht. Deshalb ziehen der Präsident und die Regierung im Wahlkampf alle Register. Der Staatschef rückt die Nein-Sager in die Nähe von Terroristen und Staatsfeinden. Damit möchte er nationalistische Wähler gewinnen, aber auch die eigenen Reihen schließen.

      Erdogan will der Gülen-Bewegung „nicht das Recht zum Leben geben“

      Und er schreckt auch nicht davor zurück, noch schrillere und noch radikalere Töne anzuschlagen. Am Dienstag machte er erneut Front gegen die konservativ-islamische Gülen-Bewegung, die er als Drahtzieher des gescheiterten Putsches brandmarkt. Bei einer Wahlkampfveranstaltung in der Hafenstadt Zonguldak am Schwarzen Meer erklärte Erdogan: „Wir werden mit der Säuberung fortfahren, wir werden dieses Krebsgeschwür im Körper dieses Landes und des Staates ausrotten. Wir werden ihnen nicht das Recht zum Leben geben.“ Der iranisch-amerikanische Religionswissenschaftler Reza Aslan warf dem Präsidenten daraufhin vor, „offen einen Genozid in Aussicht zu stellen“.

      Aber nicht nur in den Reihen der Opposition gibt es Nein-Sager. „Mindestens 15 Prozent der Wähler der Regierungspartei AKP sind gegen das Präsidialsystem“, sagt Etyen Mahcupyan. Der 67-jährige türkisch-armenische Wirtschaftswissenschaftler muss es wissen: Er wurde 2015 vom damaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu zum Chefberater berufen und kennt die Kräfteverhältnisse in der Regierungspartei sehr gut. Mahcupyan bezeichnet sich als AKP-Anhänger, will aber mit Nein stimmen. Die Gewaltenteilung werde mit dem Präsidialsystem ausgehebelt. Mit Demokratie habe das nichts mehr zu tun, sagt Mahcupyan: „Erdogan plant eine Alleinherrschaft, er will die Macht um jeden Preis.“

      Die Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus

      „Diktatörlüge Hayir! – keine Diktatur!“ steht auf dem Plakat einer Demonstrantin, die im März in München gegen die Verfassungsreform protestierte.
      „Diktatörlüge Hayir! – keine Diktatur!“ steht auf dem Plakat einer Demonstrantin, die im März in München gegen die Verfassungsreform protestierte. © dpa | Alexander Heinl

      Bisher gab sich Erdogan siegessicher: Mindestens 52 Prozent Zustimmung erwarte er beim Referendum, sagte er kürzlich. Besser noch sei es, wenn die Wähler das Präsidialsystem mit mehr als 60 Prozent Ja-Stimmen „krönen“ würden. Die Umfragen lassen allerdings ein knappes Ergebnis erwarten. Eine in der ersten Aprilwoche erhobene Untersuchung kommt auf 45,9 Prozent Ja- und 47,3 Prozent Nein-Stimmen.

      Dass Erdogan ein Nein akzeptieren und sich in die Grenzen der geltenden Verfassung fügen würde, glauben die wenigsten Beobachter in Ankara. Möglicherweise müssen die türkischen Wähler so lange abstimmen, bis es passt. Das deutete diese Woche der Erdogan-Berater Mehmet Ucum in einem Interview an: Bei einem Nein müsse man den Wählern eben „ein verbessertes Modell“ präsentieren.