Berlin. Auch nach dem EU-Austritt bleibt Großbritannien wichtiger Partner Europas. Es wäre leichtsinnig, die Bindungen mit London zu kappen.

Manchem Herzenseuropäer mag es gestern noch einmal einen Stich versetzt haben: Der Countdown zum EU-Austritt Großbritanniens hat begonnen. Am Ende des Prozesses wird die Insel nicht mehr zur Gemeinschaft gehören. Die Verhandlungen über die Trennung werden für beide Seiten hart, keine Frage. Und eines sollte klar sein: Es darf keine Option geben, bei der die Briten über alle wirtschaftlichen Vorteile des EU-Binnenmarkts verfügen, aber dafür keinerlei Verpflichtungen bei den Finanzen oder bei der Einwanderung übernehmen.

Der Satz „Brexit heißt Brexit“ gilt nicht nur für die britische Premierministerin Theresa May. Er trifft auch auf Brüssel zu. Schon allein, um keinen Präzedenzfall für einen kostengünstigen EU-Ausstieg zu schaffen. Deshalb wird die Regierung in London einen Preis bezahlen müssen.

Jedes fünfte hierzulande gefertigte Auto geht nach Großbritannien

Dennoch sind Revanchegelüste fehl am Platz. Wer es jetzt den Briten mit unerbittlichen Verhandlungen und einem entsprechend teuren Ergebnis heimzahlen will, gönnt sich allenfalls billige emotionale Genugtuung. Die Fakten sprechen nämlich eine andere Sprache: Großbritannien ist sowohl in der Wirtschaft als auch in der inneren und äußeren Sicherheit ein zu wichtiger Partner der Europäer.

Allein die exportfreudigen deutschen Unternehmen wissen, wovon die Rede ist. Das Vereinigte Königreich ist für sie der drittgrößte Markt bei den Ausfuhren – das Volumen beträgt jährlich mehr als 90 Milliarden Euro. Jedes fünfte hierzulande gefertigte Auto geht nach Großbritannien. BMW verkauft dort mehr als 230.000 Fahrzeuge pro Jahr – über zehn Prozent des weltweiten Absatzes. Mehr als 2500 deutsche Firmen haben Niederlassungen auf der anderen Seite des Ärmelkanals. Siemens, Bosch, VW, Eon, die Deutsche Telekom und viele andere investieren im Vereinigten Königreich mehr als 120 Milliarden Euro.

Bei der Terrorabwehr sind die Briten für die EU unverzichtbar

Wer Zölle und andere Handelsschranken einführt, straft nicht nur britische Betriebe ab, sondern auch deutsche oder französische. Kaum eine Volkswirtschaft ist durch globale Lieferketten so vernetzt – und dadurch auch abhängig – wie die deutsche. Die internationalen Produktionsstandbeine sind einer der Erfolgsfaktoren für das hiesige Geschäft. Eventuelle Vergeltungsmaßnahmen schaden vor allem auch der eigenen Wirtschaft.

Auch bei der Terrorabwehr sind die Briten für die EU unverzichtbar. Ihr Geheimdienst liefert wesentliche Erkenntnisse über die Anschlagspläne islamistischer Extremisten, nicht zuletzt durch seine enge Verzahnung mit den Vereinigten Staaten. Es wäre fahrlässig, diese Zusammenarbeit durch einen überzogenen Anti-Brexit-Reflex aufs Spiel zu setzen.

Großbritannien ist neben Frankreich die einzige Atommacht in Europa

Das Gleiche gilt für den Nato-Partner Großbritannien. Das Land ist neben Frankreich die einzige Atommacht in Europa. Damit ist zumindest eine Minimalabschreckung gewährleistet. Ob im Baltikum oder in Afghanistan: Die Briten machen einen wichtigen Anker im westlichen Bündnis aus. Gerade in Zeiten, in denen europaweit der Ruf nach mehr Kooperation bei der Verteidigung laut wird, darf London nicht außen vor bleiben. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass US-Präsident Donald Trump Zweifel an Amerikas Militärpräsenz in Europa nicht restlos ausgeräumt hat.

Die Welt ist in einem schnellen Wandel begriffen, und alle müssen sich auf neue Situationen einstellen. Autoritäre Staats- und Regierungschefs stehen zwischen Washington, Moskau und Peking hoch im Kurs. Vor diesem Hintergrund wäre es leichtsinnig, die Bindungen mit Großbritannien zu kappen. Daher: Brexit ja, aber mit Maß und Mitte.