Rom. 60 Jahre Europäische Union: Beim Jubiläumsgipfel in Rom ignorieren die EU-Mitglieder alle Krisen und schauen auf ihre Vergangenheit.
Als das organisierte Europa vor 60 Jahren aus der Taufe gehoben wurde, regnete es. Es war ein Montag, die Römer hatten frei und interessierten sich nicht sonderlich dafür, dass mitten in ihrer Stadt Geschichte geschrieben wurde. Insofern gibt es Fortschritte zu verzeichnen: Der 60. Geburtstag an selber Stelle ist ein makellos sonniger Sonnabend. Ausgedehnte Sicherheitszonen samt damit verbundenem Verkehrschaos sorgen dafür, dass auch der letzte Bürger mitbekommt: Hochmögende Persönlichkeiten sind in der Stadt. Aufmärsche und Demonstrationen pro und contra EU bezeugen: Auch das Volk nimmt die Sache durchaus ernst.
Mit gutem Grund, sagt Donald Tusk, der polnische Präsident der EU-Gipfeltreffen, der in diesem Jahr ebenfalls seinen Sechzigsten feiert. Mehr als die Hälfte seines Lebens habe er hinter dem Eisernen Vorhang gelebt. Die Einheit Europas sei für ihn nur ein Traum gewesen, aber schließlich Wirklichkeit geworden, dank der Entschlossenheit und Weitsicht der Gründerväter. „Sie hatten Mut wie Kolumbus, sich in unbekannte Gewässer zu wagen!“
„Europa trägt die Möglichkeit neuer Jugend in sich“
Vereinigtes Europa – das ist die Devise dieser Geburtstagsfeier. Die Misstöne werden ausgeblendet. Es soll keinen Streit geben über ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, wie es Angela Merkel im Auge hat. Keinen Zwist wegen der Forderung der Südländer nach einer sozialeren Ausrichtung. Auch das Zerwürfnis mit der nationalistischen Regierung in Polen hat einen Tag Pause. Die Polen sind sauer, weil die anderen EU-Länder gegen ihren Willen den ungeliebten Tusk für eine zweite Amtszeit verpflichtet haben.
Der Papst persönlich hat den Staats- und Regierungschefs bei der Audienz im Vatikan am Vortag eingeschärft, worum es geht: „Europa hat nicht nur ein fortgeschrittenes Alter erreicht – es trägt auch die Möglichkeit einer neuen Jugend in sich!“
Juncker feiert den Frieden in Europa
Die Vergangenheit als Wegweiser in die Zukunft – keiner bringt das so volltönend auf den Punkt wie Jean-Claude Juncker, Präsident der Brüsseler EU-Kommission und in eigener Person ein Stück europäischer Geschichte. 40 bewaffnete Konflikte gebe es derzeit weltweit, aber keinen auf europäischem Territorium. „Wir haben dem Frieden eine endgültige Heimstatt auf dem europäischen Kontinent gegeben!“, ruft der Luxemburger.
Europa feiert den 60. Geburtstag der EU
Die Herausforderungen, denen sich die EU heute gegenübersehe, seien ohne Zweifel beachtlich. Aber sie seien ein Klacks im Vergleich zu dem, was Adenauer, Monnet, Spaak und die anderen Baumeister des Hauses Europa an Widrigkeiten zu überwinden hatten: „Heute stehen wir auf den Schultern dieser Giganten!“
Briten auf dem Gipfel nicht mehr dabei
Der Atem der Geschichte in den ehrwürdigen Gemäuern ist bei der anstrengenden Mobilisierung des Gemeinsinns behilflich. Die Feier findet am selben Ort statt wie einst der Auftakt, auf dem Kapitolshügel im Zentrum der ewigen Stadt. Einer nach dem anderen marschieren die Gipfelteilnehmer unter dem starren Blick einer gigantischen Bronzestatue des römischen Kaisers Marc Aurel über die sonnenbeschienene Piazza del Campidoglio.
Zum eigentlichen Festakt versammelt man sich in Roms guter Stube, dem Saal der Horatier und Kuratier, unlängst aufwendig restauriert mit dem Geld eines Milliardärs aus Usbekistan. Vor den düsteren Fresken mit Schlüsselszenen aus der römischen Geschichte ist der farbenfrohe Fahnenwald der EU-Staaten aufgebaut. 28 minus eins – die Briten sind zwar noch „Mitglied mit allen Rechten und Pflichten“. Doch bei dieser Kollektivermutigung sind sie auf eigenen Wunsch nicht mehr dabei. Zu den Herausforderungen der näheren Zukunft gehört die Schadensabwicklung des Unglücks namens Brexit.
Tsipras äußerte Unmut
Dafür machen die anderen alle mit. Das Geburtstagsmanifest, „die Erklärung von Rom“, wird am Ende von sämtlichen 27 Staats- und Regierungschefs unterzeichnet. Auch vom Griechen Alexis Tsipras, der sich unzufrieden gezeigt hatte, weil der Text die soziale Selbstverpflichtung der EU unterbelichte. Der Unmut konnte mittels eines zusätzlichen Akzents für den Kampf gegen Arbeitslosigkeit überwunden werden.
Außerdem sicherte Tusk dem griechischen Premier Bemühungen zu, zügig zu einer Einigung über die nächste Stufe des Hilfsprogramms für Griechenland zu kommen. Daran hängen Milliardenkredite, die Athen spätestens im Frühsommer braucht. Auch das EU-Sorgenkind Nummer eins, Polens Regierungschefin Beata Szydlo, liefert ihre Unterschrift ab.
„Unsere Union ist ungeteilt und unteilbar“
Abgesehen vom Ärger über die Tusk-Wahl nehmen die Polen vor allem Anstoß an der Vorstellung, dass die EU-Staaten ihre Zusammenarbeit gruppenweise beschleunigen könnten. Das laufe auf eine Aufspaltung der Gemeinschaft hinaus, meinen sie. Diese Option steht aber schon im EU-Vertrag von Lissabon. Im feierlichen Bekenntnis von Rom wird das noch einmal in Erinnerung gerufen.
Die Tür bleibe für alle offen, sich den Schnelleren anzuschließen, versichert die Erklärung. Und schließt mit einem europäischen Wort zum Sonntag: „Unsere Union ist ungeteilt und unteilbar.“ Der erste Teil ist zumindest an diesem Geburtstag zutreffend. Der Beweis des zweiten Teils steht noch aus.