Brüssel. Die Europäische Union wird 60, die Kritik am Moloch Brüssel wächst. Doch es gibt noch solche, für die Europa eine Herzenssache ist.

Am nächsten Samstag begeht die EU in Rom ihren 60. Geburtstag. Für manche ist es ein melancholisches Datum. Herzenseuropäer müssen erleben, wie ihr Lieblingsprojekt, einst der Stolz des Kontinents, miesgemacht wird. „Wir sind zu unserem Glück vereint“, hieß es 2007 zum 50. Jubiläum der EU.

Damals eine schöne Formel, heute eine verwegene Behauptung. Aber es gibt sie noch, die Aufrechten, die Europa mit der Seele suchen. Wir haben einige gefunden.

• Johannes Laitenberger – der Handwerker

Johannes Laitenberger
Johannes Laitenberger © imago/ZUMA Press | imago stock&people

In der Ferne schimmert silbern das Atomium, man sieht die Jumbo-Kathedrale von Koekelberg, die prächtige Grand Place, dahinter das Riesenrad auf dem alten Fischmarkt. Mehr Blick kann man in Brüssel nicht haben, als aus Johannes Laitenbergers Büro im 21. Stock des Hochhauses Madou. Da sitzt „DG Comp“, die mächtige Abteilung der EU-Kommission, die über den fairen Wettbewerb im Binnenmarkt wacht. Laitenberger, 52, ist der Chef. Er hat es in Europa weit gebracht.

Geboren in Hamburg, Schüler in Portugal, hat der Jurist den Großteil seiner beruflichen Laufbahn in Diensten der EU absolviert. Irgendwann hat er angefangen, die rechte Hand aufs Herz zu legen, wenn die Europa-Hymne erklingt. Warum? „Es ist ja nicht so, dass wir in der EU mit Symbolik überreich gesegnet wären. Das europäische Projekt bietet oft mehr für den Kopf als fürs Herz.“

Das war schon mal anders. 1974 zum Beispiel, als der kleine Johannes aus Deutschland nach Portugal kam, wo sich nach dem Sturz der Diktatur die Hoffnung auf Europa richtete. Der Zauber ist verflogen, Laitenberger findet das nicht verwunderlich. „Normalität sorgt nicht für ständige Begeisterung. Wenn das Gute zur Normalität geworden ist, spürt man die Mühen der Kompromissbildung deutlicher.“ Und Begeisterung kann befremden. „Es gibt einen gewissen Hurra-Föderalismus, der die Befindlichkeiten der Menschen ignoriert.

Genauso wenig, wie sich Esperanto in Europa als gemeinsame Sprache durchgesetzt hat, wollen die Menschen auf ihren Nationalstaat verzichten.“ Sind wir dennoch „zu unserem Glück vereint?“ Die Grundaussage sei weiter richtig. „Es würde uns doch in Europa nicht besser gehen, wenn jeder sein eigenes Ding machen würde. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass die Leute kein Gefühl mehr haben für die Vorteile der Gemeinsamkeit.“

• Jacek Telus – der Träumer

Ein Video, abrufbar auf Youtube: Eine bleiche Schönheit schreitet über kahles Gelände, das blaue Sternenbanner der Europäischen Union über der Schulter. Die Fahne fällt zu Boden, eine Frau nimmt sie auf, trägt sie weiter. Doch dann fliegen Tomaten und Eier, Schmerz malt sich auf dem Gesicht der Frau. Sie weint. Eine Gitarren-Band spielt, ein Sänger mit polnischem Akzent singt inbrünstig: „Europa – unsere Sehnsucht, unser Traum!“

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Pathos, fingerdick aufgetragen – ist das ernst gemeint? Oder „heute show“? Der polnische Liedermacher Jacek Telus hat mit drei Freunden das Stück geschrieben und aufgenommen. Sie treten damit in Deutschland auf, wollen auch bei einem EU-Event spielen. Es ist ihnen bitter ernst. Europa ist ihr Traum, und sie haben Sorge, dass er kaputt gemacht wird.

• Jo Leinen – der Unverdrossene

 Jo Leinen
Jo Leinen © imago/Xinhua | imago stock&people

Seit 1999 ist der Saarländer Europa-Abgeordneter der SPD. Sein Büro liegt im 12. Stock des Gebäudes, das den Namen des italienischen Europa-Pioniers Altiero Spinelli trägt. Auf seinem Laptop führt er das gefühlssatte Telus-Video vor. Polen liegt im Clinch mit der EU. Es ist das Land, in dem ein kleiner Mann namens Jaroslaw Kaczynski das Sagen hat. Ihm sind die Religion wichtig und das Vaterland, mit der EU kann er nichts angefangen. Doch Leinen, 68, sagt: „Ich kenne viele, viele Polen, die Europa im Herzen tragen.“

Er selber auch, das bestätigt er gern. Einmal im Monat trifft er sich in Straßburg mit Gesinnungsfreunden in der überfraktionellen Spinelli-Gruppe, 80 bis 100 Mitglieder. „Für ein Viertel bis ein Drittel der 751 Abgeordneten ist Europa eine Herzenssache“, sagt Leinen – „was ja schon dramatisch wenig ist!“. 1984, als Spinell die Verfassung einer Politischen Union Europas im EP zur Abstimmung stellte, waren noch fast alle dafür.

„Wir versuchen, die Fahne hoch zu halten“, erzählt Leinen über die Spinelli-Gruppe. „Zuletzt gab es ja einen Nackenschlag nach dem anderen, wir überlegen, wie man trotz der Misere Europa weiterbringt.“ Besonders engagiert sind die Abgeordneten aus Zentraleuropa. Schweden, Dänen , Briten sind hingegen Ausfälle. Leinen: „In unserem Manifest steht, dass wir eine Politische Union wollen, also die Vereinigten Staaten von Europa. Nur - die Zeiten sind nicht so, dass wir jetzt die Diskussion darüber vom Zaun brechen.“ Aber nach den französischen Wahlen im Frühjahr 2017 wollen sie aus der Deckung kommen: Ein neuer Verfassungskonvent müsse her, der die nächste Stufe der Einigung Europas vorbereiten soll. „Das europäische Haus ist eine Baustelle – es fehlen ein paar Etagen und jede Menge Inneneinrichtung.“

• Jean-Claude Juncker – der Gefühlsmensch

Jean-Claude Juncker (l.), hier mit Italiens Premier Paolo Gentiloni.
Jean-Claude Juncker (l.), hier mit Italiens Premier Paolo Gentiloni. © REUTERS | VINCENT KESSLER

Von den Vereinigten Staaten von Europa will er nichts mehr wissen. Der 62-jährige Chef der EU-Kommission hat den Begriff als untauglich zu den Akten gelegt und redet lieber vom Europa, das liefern müsse. Reine Kopfsache? Das nun doch nicht, sagt Juncker: „Diejenigen, die Europa zu einem rein rationalen Vorgang erklärt haben, und die auch so sprechen, ergo von den Menschen nicht verstanden werden, die haben das Wesentliche, das Kernelement der europäischen Einigung nicht verstanden.

Und deshalb braucht es in Europa auch – und da darf man sich nicht genieren! – auch Gefühl. Man muss auch mit Gefühl über Europa reden. Und man braucht sich dessen nicht zu schämen!“

• Guy Verhofstadt – der Hitzkopf

Guy Verhofstadt.
Guy Verhofstadt. © REUTERS | YVES HERMAN

Für ein persönliches Gespräch hat der wortgewaltige Chef der Liberalen im EU-Parlament und ehemalige belgische Premier keine Zeit. Telefon muss reichen. Verhofstadt, 63, ist ein vielbeschäftigter Mann. Er soll das Parlament bei den Brexit-Verhandlungen mit London vertreten. Nigel Farage, Parlaments-Schandmaul und Ex-Chef der EU-feindlichen Partei UKIP, hat seine Unterstützung zugesagt – der dröhnende Europa-Posaunist Verhofstadt biete die beste Gewähr dafür, dass die EU zügig zusammenbreche.

Verhofstadt ficht das nicht an. Der ewige Prophet der „Vereinigten Staaten von Europa“ verspürt Rückenwind. „Ich weiß, dass die Leute sagen: Das ist einer der letzten Europäer. Aber ich sehe einen Umschwung in der öffentlichen Meinung – in den sozialen Medien, bei Demonstrationen, in neuen Parteien. Die Zukunft ist eine reformierte Europäische Union. Ich nenne es einen wirklichen Bundesstaat!“

Die grassierende Skepsis richtet sich laut Verhofstadt nämlich nicht gegen Europa, sondern gegen die EU im derzeitigen Zustand. „Man muss einen klaren Unterschied machen zwischen den Gefühlen der Leute gegenüber dem Europa, das wir heute haben, und das sie sich vorstellen. Sie wollen eine europäische Armee, Bankenunion, gemeinsames Asylsystem, gemeinsamen Grenzschutz. Und das kriegen sie derzeit nicht.“ Außerdem dürfe man die emotionale Ansprache nicht den Le Pens, Farages und Wilders überlassen. Verhofstadt: „Beim Brexit hätte man fragen sollen: Glauben Sie, dass Shakespeare zur europäischen Zivilisation gehört? Da hätten alle zugestimmt!“

• Paul Dujardin – der Antreiber

Paul Dujardin
Paul Dujardin © imago/Eibner Europa | imago stock&people

Der energische Leiter des Brüsseler Kulturtempels Bozar kämpft für die europäische Sache mit den Mitteln der Künste. Als „Euromantiker“ sieht er sich nicht. „Aber ich habe trotzdem eine Liebesbeziehung mit Europa – und das ist heutzutage eine komplizierte Sache. Man heiratet, man heiratet ein zweites Mal, man hat Kinder mit verschiedenen Partnern. Auch Europa ist heute viel komplizierter als früher!“ Dujardins Vater, ein katholischer Mittelständler, wählte Zeit seines Lebens die Christdemokraten. Bei seinen zehn Kindern ging es plötzlich drunter und drüber, der 68er Bewegung sei Dank. „Ich war die Nummer neun, saß am Ende des Tisches und staunte: Auf einmal hatte jeder eine andere Meinung.“

Europa galt als tolle Sache, erzählt Dujardin, Jahrgang 1963. „In den achtziger Jahren nannte sich jede Autowaschanlage ‚europäisch‘. Für mich als Studenten war es fantastisch – die Entdeckung der anderen, die Vielfalt und die fabelhaften Möglichkeiten des Austauschs.“ Die Begeisterung ist ungebrochen. Nur dürfe man das große Unternehmen nicht der Politik überlassen. Dujardin fordert mehr politisches Engagement seiner Branche. „Wissenschaftler, Künstler, Intellektuelle müssen raus aus der Komfortzone, auf die Straße – die Eliten wissen zum Teil selbst nicht mehr, wie Europa funktioniert.“

Dujardin ist nicht sicher, ob das krisengeschüttelte Europa das Schlimmste schon hinter sich hat. Aber er glaubt fest daran, dass es genügend Menschen gibt („auch in Ungarn, Polen oder in Russland“), die sich den Traum vom bunten Miteinander nicht zerstören lassen. Der Bozar-Chef wohnt im ärmlichen Brüsseler Stadtteil St. Josse, 25.000 Menschen auf einem Quadratkilometer, 153 Sprachen, nirgendwo ist Belgien so dicht besiedelt. „Solche Quartiere bieten Riesenchancen – das sind Start-ups für Weltbürgertum!“

• Elmar Brok – der Unentwegte

Elmar Brok.
Elmar Brok. © imago/Horst Galuschka | imago stock&people

Brok, 70, liest vor aus einer Rezension. In dem besprochenen Buch mokiert sich der Autor über „Mehr-Europa-Europäer“, die mit ihrem überschäumenden Enthusiasmus die gute Sache ruinieren. Gemeint, steht da, seien Menschen wie Elmar Brok. Das amüsiert den CDU-Veteranen, seit 1980 im EP und damit Stubenältester im Hohen Haus. Dort leitet er den Auswärtigen Ausschuss . Außerdem ist er Präsident der Union Europäischer Föderalisten und Ehrenpräsident der Europa-Union Deutschland. Die hat im Herbst im niedersächsischen Syke ihren 70. Geburtstag gefeiert. Wie war die Stimmung – Untergang? Von wegen, Brok zieht an der erloschenen Zigarre und grinst, „nicht nach meiner Rede!“

Aber natürlich bekommt er auch andere Resonanz, zum Teil von gebildeten Leuten. „Unfassbar, was ich an beleidigender Mail kriege. Ich schreib dann zurück. Ich danke Ihnen herzlich, Herr Professor Doktor, für Ihre Information auf hohem akademischem Niveau!“ Seine Hoffnung gilt dem Nachwuchs. „Ich besuche häufig Schulen. Da läuft eine viel vernünftigere Europa-Diskussion als vor 20 Jahren, als es immer um Butterberge und krumme Gurken ging. In Großbritannien haben ja die Jungen gegen den Brexit gestimmt.“

• Dany Cohn-Bendit – der deutsch-französische Motor

Daniel Cohn-Bendit.
Daniel Cohn-Bendit. © imago/PanoramiC | imago stock&people

Zwanzig Jahre lang war der einstige Studentenführer für die Grünen im Europa-Parlament, vor zweieinhalb Jahren, mit 69, schied er aus. Das Alter, die Gesundheit - es muss ein Leben geben danach. Gibt es, nur nicht nach der Politik, nicht für den rührigen Rentner mit dem deutsch-französischen Doppelpass und dem Lebensthema Europa. Hat er Zweifel? Nur in Bezug auf „die Akteure, die im Moment das Sagen haben. Aber ich bin fest überzeugt, dass wir unsere Vorstellung von Zivilisation, von Leben, vom sozialen Rechtsstaat nur werden verteidigen können mit einer europäischen Souveränität.“

Denn allein sind auch die Größeren zu klein, sagt Cohn-Bendit. „In 30 Jahren wird der Einfluss Deutschlands in der Welt so groß sein wie jetzt der Luxemburgs in Europa. Frankreich ist dann so stark wie Andorra.“ Die Zukunft des Nationalstaates sieht Dany, der Ergraute, skeptischer als sein alter Kumpel Joschka Fischer. „Mag sein, dass man die Widerstandkraft des Nationalstaates, den Unwillen, Souveränität zu teilen, unterschätzt hat. Aber, ob wir in 30 Jahren die Vereinigten Staaten von Europa haben oder nicht – wir werden den Nationalstaat überwinden müssen. Die Frage ist, ob wir dafür kämpfen oder klein beigeben.“

Da sieht es laut Cohn-Bendit nicht so düster aus, wie viele meinen. „Ich mache viele Debatten, in Deutschland, in Frankreich. Da sind die Säle voll. Man unterschätzt, wie viele bereit sind, für Europa zu kämpfen.“ Vor allem die Jungen. „Die Idee Europa lebt bei den jungen Menschen. Nur ist sie zersplittert, kleinteilig geworden.“ Was kein Wunder sei, angesichts all der Niederlagen der Älteren, der Kriege, der unbarmherzigen Kälte der Globalisierung. „Die Realität macht es den Jungen heute schwieriger, maßlos zu träumen.“