Edinburgh. Die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon will raus aus Großbritannien – doch längst nicht alle sind ihrer Meinung.

Die Schulklasse, die die wöchentliche Fragestunde der Ministerpräsidentin miterleben will, mag wohl etwas mehr Drama erwartet haben. Auf der Besuchergalerie des schottischen Regionalparlaments in Edinburgh langweilen sich ein Dutzend Jugendliche. Nicola Sturgeon, die auch Chefin der Scottish National Party (SNP) ist, steht im Halbkreis der hellbraunen Abgeordnetenbänke. Sie beantwortet geduldig Fragen über den Lehrermangel oder die Bettenkrise in Krankenhäusern. Politischer Routinebetrieb.

Aber dann wird es spannender. Warum, so will die Vorsitzende der schottischer Labour-Partei Kezia Dugdale wissen, wolle die Erste Ministerin das Land erneut in eine spalterische Debatte über seine Union mit dem Vereinten Königreich stürzen? Und auch die Oppositionsführerin Ruth Davidson von den Konservativen legt den Finger auf die Wunde: Schottland habe jetzt größere Probleme als ein erneutes Referendum über die nationale Unabhängigkeit anzustreben.

Thema Unabhängigkeit beschäftigt Schottland schon lange

Die Atmosphäre heizt sich auf, die Stimmung wird angespannt. Sturgeon reagiert gereizt. Wieder einmal würden sich Labour und Konservative verbünden, um das Land herunterzureden, schimpft sie. Jetzt werden auch die Schüler aufmerksamer. Immerhin geht es hier um ihre Zukunft. Bei einem zweiten Referendum über die nationale Unabhängigkeit dürften auch die 16- bis 18-Jährigen mit abstimmen.

Die Unabhängigkeit. Kein Thema hat die Schotten in den letzten fünf Jahren mehr beschäftigt. Als Folge davon ist Schottland eine zerrissene Nation. Unionisten streiten sich mit Nationalisten, Separatisten kämpfen gegen Schotten, die sich auch als Briten verstehen. Vor zweieinhalb Jahren haben die Bürger schon einmal darüber abgestimmt, ob sie aus dem Vereinten Königreich austreten und ein unabhängiges Land werden wollen. 45 Prozent sagten Ja, eine Mehrheit von 55 Prozent sagte Nein. Bis heute hat sich an diesen Mehrheitsverhältnissen nicht viel verändert.

Sturgeon will Referendum gegen London durchdrücken

Doch jetzt will Sturgeon die Schotten erneut über ihr Schicksal befinden lassen. Anfang der Woche hatte sie überraschend „Indyref2“ angekündigt, wie der zweite Anlauf genannt wird. Sie begründet ihren Vorstoß damit, dass die Entscheidung der Briten, aus der Europäischen Union austreten zu wollen, die Karten neu gemischt habe. Umso mehr, weil die britische Premierministerin Theresa May einen harten Brexit ansteuere und sowohl aus dem Binnenmarkt wie auch aus der Zollunion ausscheiden wolle. Das sei unakzeptabel für die Schotten, betont Sturgeon.

Im Brexit-Referendum im Juni 2016 hatten 62 Prozent für das Verbleiben in der EU gestimmt. Für die schottische Wirtschaft wäre ein harter Brexit ein Desaster, argumentiert die Ministerpräsidentin. Deshalb müssten die Bürger in einem Referendum die Wahl haben, ob sie zusammen mit dem Rest-Königreich das Brexit-Abenteuer mitmachen oder lieber den nationalen Alleingang versuchen wollen. „Der Brexit wird jeden Haushalt 5000 Pfund kosten“, warnt Sturgeon. „Ich will, dass die Menschen eine Wahl haben.“

Hälfte der Schotten lehnt erneutes Referendum ab

Ob das die Schotten auch wollen, ist eine ganz andere Frage. Eine Internetpetition, die Indyref2 verhindern will, hat in Rekordzeit die Marke von 170.000 Unterschriften erreicht. „Wir in Schottland“, heißt es in der Petition, „haben genug von der Verfolgung durch die SNP-Chefin, die einzig bestrebt ist, Unabhängigkeit um jeden Preis zu erreichen. Als ein Resultat leidet Schottland gewaltig.“ Laut Umfragen lehnen fast 50 Prozent der Schotten ein zweites Referendum ab.

„Die Volksbefragung kommt viel zu früh“, meint auch Howie Nicholsby. Der 37-Jährige ist ein Nationalist, der beim letzten Mal für die Unabhängigkeit gestimmt hat, es beim nächsten Mal aber nicht mehr tun will. Nicholsby ist ein moderner Schotte. In seiner Werkstatt in der Thistle Street in der Neustadt von Edinburgh schneidert er Schottenröcke „für das 21. Jahrhundert“.

Schottland erlebte Ende der 90er Aufstieg des Nationalismus

Der Kilt dürfte eines der bekanntesten Symbole für schottische Identität sein, aber in seiner durch die romantische Verklärung der Viktorianischen Ära geprägten Version hält ihn Nicholsby für verstaubt bis peinlich. Er will den Schottenrock wieder „zu seinen originären Wurzeln als ein Kleidungsstück für den Alltag“ zurückbringen. Seine Kilts sind aus Jeansstoff, Nadelstreifen, manchmal sogar aus PVC gefertigt, zu seinen Kunden zählen Vin Diesel, Robbie Williams oder Mario Testino.

Nicholsby ist kein Romantiker. Der Film „Braveheart“, in der Mel Gibson den Freiheitshelden William Wallace im Kampf gegen die perfiden Engländer spielt, hatte Ende der 90er-Jahre eine Renaissance des Nationalismus ausgelöst. Eine Welle des Nationalstolzes, der sich in Gegnerschaft zu England definierte, schwappte damals über das Land und ermöglichte letztlich den Aufstieg der SNP.

Niedriges Wirtschaftswachstum in Schottland

Nicholsby hat mit dieser Art von Nationalismus, mit seiner manchmal ans Chauvinistische grenzenden Schottlandtümelei nichts am Hut. Dafür ist er zu sehr Geschäftsmann und Pragmatiker. „Das Problem ist: Die Leute von der SNP sind Idealisten, keine Realisten“, meint Nicholsby. „Unabhängigkeit löst keine Probleme. Der Brexit kommt, so oder so, und jetzt müssen wir ihn alle zusammen – also England, Schottland, Wales und Nordirland gemeinsam – zu einem Erfolg machen.“

Mit den Problemen, die gelöst werden müssten, meint Nicholsby unter anderem das Loch im Haushalt. Während im Rest des Königreichs das Bruttoinlandsprodukt im letzten Jahr um 2,4 Prozent zulegte, wuchs die schottische Wirtschaft lediglich um 0,7 Prozent, nicht zuletzt weil die Einnahmen aus der Ölwirtschaft stark gesunken sind. Als Folge davon fährt die Regionalregierung ein jährliches Haushaltsdefizit von 9,5 Prozent ein – man gibt 15 Milliarden Pfund mehr aus, als man einnimmt. Schottland hängt an Englands Tropf.

Unabhängigkeitsdebatte spaltet Familien

Ob man unter solchen Umständen einen Alleingang riskieren kann, bezweifeln viele. Kasia Zybrowka ist eine blonde Mittdreißigerin, die einem Bis­tro im Westen von Edinburgh als Kellnerin arbeitet. Das Lokal bietet eine Mischung aus schottischer und französischer Küche, über der dunklen Holzvertäfelung erstreckt sich die weiß verputzte Decke.

Seit 2006 lebt Zybrowka in Schottland. Ob sie für die Unabhängigkeit stimmen würde, lässt sie offen. „Zu viele Fragen sind ungeklärt“, meint sie, „und die SNP hat zu wenig Antworten.“ Auch ihrer Kellnerkollegin Fiona, die Schottin und Unionistin ist und erst vor Kurzem aus London zurückkehrte, graut es vor einer erneuten Volksabstimmung. „Der Riss geht durch Familien. Meine Schwester, die für die Unabhängigkeit ist, sagt mir, ich wäre gar keine richtige Schottin, weil ich 20 Jahre lang in England gelebt habe.“

Theresa May hält Referendum für unverantwortlich

David Torrance, Publizist und langjähriger Begleiter der Unabhängigkeitsdebatte, hält die Forderung von Nicola Sturgeon, bis spätestens März 2019 ein erneutes Referendum abhalten zu wollen, für unverantwortlich. „Unabhängigkeit ist keine glaubwürdige Antwort auf den Brexit“, meint er. „Warum alles darauf setzen, im Binnenmarkt bleiben zu wollen, aber dann den viel wichtigeren englischen Markt riskieren? Das macht keinen Sinn.“

Ministerpräsidentin Sturgeon will den Druck auf London erhöhen. Nächste Woche wird das schottische Parlament darüber abstimmen, formell die Erlaubnis der britischen Regierung einzuholen, ein bindendes Referendum abzuhalten. Theresa May hat schon vorab darauf reagiert. Solange die Brexit-Verhandlungen laufen, sagte sie, wäre dies unverantwortlich.