Al Za’atari. Was geschieht, wenn Deutschland Fluchtursachen bekämpft? Ein Besuch in Jordanien in der zweitgrößten Flüchtlingssiedlung der Welt.

Adl Tokan mag nicht klagen. Jeder Mangel hier ist besser als die Angst vor Bomben und Anschläge. Er hat Geduld und noch mehr Hoffnung. Hoffnung, „dass wir so schnell wie möglich wieder zurückkönnen. Und dass unsere Kinder es einmal besser haben als wir.“ Mit seiner Frau Yasmin (23) und seinen vier Kindern hat der 31-Jährige in einem Container Unterschlupf gefunden.

Gemeinsam teilen sie sich einen Raum von acht Quadratmetern. Auf dem Boden liegen orientalisch gemusterte Matratzen, auf denen tagsüber gegessen, geredet oder gespielt wird – und nachts geschlafen. Und dies seit fast fünf Jahren, als die Familie aus Syrien nach Jordanien geflohen ist, um ihr Leben zu retten. Die Familie zählt zu 80.000 Syrern, die in dem Flüchtlingscamp Al Za’atari südlich der syrischen Grenze in Jordanien Schutz gefunden haben – darunter 40.000 Kinder. Nur in Kenia leben in dem Lager Dadaab mehr Flüchtlinge an einem Ort zusammen als hier.

Flüchtlingslager bildet viertgrößte Stadt

Die Zuflucht, die 2012 als Zeltdorf begann, ist zum zweitgrößten Flüchtlingslager der Welt herangewachsen – und gilt in Jordanien als viertgrößte Stadt. Eine Stadt, die jetzt aus 26.000 Wohncontainern besteht und vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR verwaltet wird – auch mit deutschen Hilfszahlungen.

Deutschland zählt zu den großen Geberländern zur Lösung der Flüchtlingskrise in Syrien. Von elf Milliarden US-Dollar, die bis 2018 durch die internationale Gemeinschaft in die Region fließen, stammen 2,3 Milliarden Euro vom Bund, davon 1,1 Milliarden für 2017. Allein Jordanien erhielt im vergangenen Jahr 477 Millionen Euro aus Deutschland, doppelt so viel wie in den Vorjahren. Die Mittel fließen in humanitäre Hilfen wie die Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und Bildung sowie in Entwicklungsprojekte wie den Bau von Wasserpumpen und Kläranlagen.

Jede Woche kommen in dem Camp 80 Kinder zur Welt

Schon im April wollen die Europäische Union (EU) und die Vereinten Nationen (UN) in einer Syrien-Konferenz in Brüssel weitere Hilfsgelder sammeln. Da wird auch Deutschland dabei sein, versichert Ernährungsminister Christian Schmidt (CSU) bei einem Besuch in Jordanien: „Das dient zwar nicht der Verhinderung von Fluchtursachen, lindert aber die Fluchtfolgen.“

Syrer haben eine Folkloregruppe im Lager Al Za’atari gebildet. Gerade kommen sie vom Auftritt bei einer Hochzeit
Syrer haben eine Folkloregruppe im Lager Al Za’atari gebildet. Gerade kommen sie vom Auftritt bei einer Hochzeit © REUTERS | MUHAMMAD HAMED

Die Bundesregierung will mit ihrem Geld vor allem die Region stabilisieren. Nachbarstaaten unterstützen, die durch Flüchtlinge selbst in Bedrängnis geraten. Stabilität soll dafür sorgen, dass die Flüchtenden in der Region bleiben und nicht noch mehr Syrer über gefährliche Wege nach Europa aufbrechen.

Jeder fünfte in Jordanien ein Flüchtling?

Jordanien ist besonders auf Hilfen angewiesen. Offiziell leben laut UNHCR 656.000 Syrer in Jordanien. Die Regierung selbst spricht von mehr als 1,3 Millionen – bei einer Bevölkerung von sieben Millionen Menschen. Jeder Fünfte sei ein Flüchtling. Die meisten sind in Städten und Dörfern untergeschlüpft. „Was hier passiert, geht über unsere Kapazitäten hinaus“, mahnt der jordanische Landwirtschaftsminister Khaled Hneifat.

Problematisch ist die Unterbringung der Menschen. Auch der Handel sei drastisch eingebrochen. Die Arbeitslosigkeit steigt, die Löhne sinken durch die illegale Arbeit der Flüchtlinge. Und es geht um Existenzielles: Die Wasserversorgung. Jordanien zählt zu den wasserärmsten Ländern der Welt, die Zuwanderung verschärft die Knappheit.

Supermärkte bieten den Grundbedarf an Lebensmitteln an

Schmidt sagt weitere Hilfen aus Deutschland zu, damit Jordanien sein Wasser noch effektiver nutzen kann. Ein runder Tisch soll in Kürze klären, wie Pflanzen durch neue Züchtungen auch mit wenig Wasser gedeihen oder wie Jordanien ein Marktzugang für seine Agrarprodukte in Europa geebnet werden kann. „Agrarwirtschaft ist kein Problem, sondern Teil der Lösung zu mehr Stabilität“, so Schmidt.

Früchte trägt die deutsche Unterstützung längst in Al Za’atari. Auch wenn die Wege zwischen den Containern staubig sind, ist eine Infrastruktur entstanden. Es gibt etwa 30 Schulen, 40 Moscheen, zwei Krankenhäuser, Supermärkte und dazu rund 3000 kleine Läden. Eine Geschäftsgasse nennen die Flüchtlinge ihre „Champs-Élysées“. Supermärkte bieten den Grundbedarf von Joghurt, Käse, Hähnchen, Reis und Öl bis zu frischem Gemüse und Obst wie Paprika, Tomaten, Datteln oder Äpfeln. Keiner muss hungern.

28 Dollar im Monat zum Leben

Jeder Bewohner bekommt im Monat ein Guthaben von umgerechnet 28 US-Dollar. Damit lassen sich Lebensmittel für einen Bedarf von 2100 Kilokalorien pro Tag einkaufen – wie es für die Versorgung angestrebt wird, sagt Ali Alhebshi vom World Food Programme (WFP). Kein Luxus, aber genug zum Leben. Als das Geld einmal knapp wurde, sprang Deutschland spontan ein und finanzierte monatelang die Summe alleine. So hatten alle weiter genug zu Essen.

Manche verdienen sich auch etwas im Camp als Reinigungskräfte, Köche oder Lehrer dazu. Ein Verkäufer im Supermarkt bekommt 110 Dinar pro Monat (145 Euro). Insgesamt gibt es 5800 solcher Jobs, die ebenfalls mit deutschen Mitteln aus dem Programm „Cash for Work“ mitfinanziert werden.

Abwassersystem auch durch deutsche Mithilfe

Das Wasser- und Abwassersystem entstand auch durch deutsche Mithilfe. Bald sollen die Container mit Wasserleitungen verbunden werden. Schmidt ist überzeugt: „Das Camp ist bestens organisiert und zeigt, dass der deutsche Beitrag auf guten Boden stößt.“

Al Za’atari wächst derzeit kaum noch. Jordanien hat die Grenze zu Syrien im Juni 2016 geschlossen, nachdem ein Selbstmordattentäter vier Soldaten mit in den Tod riss. Allerdings werden jede Woche etwa 80 Kinder geboren. Und wie stark ist der Wunsch, in Europa zu leben? Adl Tokan legt diese Entscheidung für sich und seine Familie in die Hände der Vereinten Nationen: „Da verlassen wir uns auf den UNHCR. Wenn er ein Gastland findet, das uns aufnehmen mag, dann sind wir für alles offen.“