Berlin. Bestimmten Patienten darf die schmerzlose Selbsttötung nicht verwehrt werden, urteilt das Bundesverwaltungsgericht. Ein Dammbruch?

Am Donnerstag hat das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) in Leipzig überraschend entschieden, dass schwer und unheilbar kranken Patienten der Zugang zu einer tödlichen Dosis Schmerzmitteln unter bestimmten Umständen nicht verweigert werden darf. Zwei Vorinstanzen hatten in der Frage anders geurteilt.

Das Thema ist unter Medizinern, Patientenvertretern und in der Politik hoch umstritten. Erst im Dezember 2015 hat der Bundestag mit Paragraf 217 des Strafgesetzbuches die Bestimmungen für assistierten Suizid verschärft: Die „geschäftsmäßige“ Beihilfe zum Suizid wurde unter Strafe gestellt. Damit sollte vor dem Hintergrund der Diskussion um den Sterbehilfeverein Dignitas in der Schweiz verhindert werden, dass Ähnliches auch in Deutschland möglich ist. Das Leipziger Urteil wirft nun viele Fragen auf.

Ist das Urteil ein Schritt in Richtung Sterbehilfe?

Matthias Thöns ist Facharzt für Anästhesie. Im nordrhein-westfälischen Witten betreibt er eine Praxis für Palliativ- und Schmerzmedizin.
Matthias Thöns ist Facharzt für Anästhesie. Im nordrhein-westfälischen Witten betreibt er eine Praxis für Palliativ- und Schmerzmedizin. © imago/APress | imago stock&people

„Definitiv nein“, sagt der Wittener Palliativmediziner Matthias Thöns, der in der Debatte um Paragraf 217 als Experte vor dem Rechtsausschuss des Bundestags ausgesagt hat – und später vor dem Bundesverfassungsgericht dagegen Beschwerde einlegte. In seinen Augen ist das Leipziger Urteil die Korrektur einer fehlgeleiteten Gesetzgebung.

„Seit 1871 war die Selbsttötung in Deutschland nicht strafbar und damit auch nicht die Beihilfe zur Selbsttötung“, erklärt Thöns. „Das hat sich erst mit Paragraf 217 geändert.“ Für problematisch hält Töns vor allem die Formulierung der „geschäftsmäßigen“ Beihilfe: „Im juristischen Sinne bedeutet geschäftsmäßig ,wiederholt’, und damit werden auch Mediziner wie ich strafrechtlich belangt, wenn sie Beihilfe zum Suizid in wenigen extremen Einzelfällen leisten“, sagt Thöns. Der Paragraf sieht bis zu drei Jahre Haft vor.

Assistierter Suizid und Sterbehilfe – was ist der Unterschied?

Beim assistierten Suizid behält die Person selbst die Kontrolle über das eigene Sterben. Die Bereitstellung tödlich wirkender Medikamente konnte bis 2015 höchstens als Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz oder als Ordnungswidrigkeit wegen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz geahndet werden. Das regelte jede der 18 verschiedenen Landesärztekammern für sich. Seither machen sich Ärzte wie Matthias Thöns strafbar.

Unter aktiver Sterbehilfe versteht man die gezielte Herbeiführung des Todes auf Wunsch einer Person, zum Beispiel durch die Gabe einer Überdosis Schmerzmittel. Das ist zurzeit nur in den Benelux-Ländern legal, wenn sie durch einen Arzt geschieht. Passive Sterbehilfe ist der Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen oder die Weiterführung einer Behandlung, die in Deutschland seit 2009 durch die Möglichkeit einer Patientenverfügung gesetzlich geregelt ist.

Ändert das Urteil die Situation für die Palliativmediziner?

Mit einer Patientenverfügung lässt sich zum Beispiel festlegen, dass man im Falle einer schweren Krankheit keine lebensverlängernden Maßnahmen möchte. In Deutschland gibt es diese Möglichkeit seit 2009.
Mit einer Patientenverfügung lässt sich zum Beispiel festlegen, dass man im Falle einer schweren Krankheit keine lebensverlängernden Maßnahmen möchte. In Deutschland gibt es diese Möglichkeit seit 2009. © imago/blickwinkel | imago stock&people

Erstmal nicht. Matthias Thöns geht aber davon aus, dass nun auch das Bundesverfassungsgericht (BVG) dem Urteil aus Leipzig folgen wird. Die Karlsruher Richter entscheiden Ende des Jahres über 17 anhängige Beschwerden gegen Paragraf 217, darunter die von Thöns und seinem Kollegen Matenaer.

„Im Moment ist die Situation ja völlig schizophren“, sagt der Arzt. „Die Patienten dürfen die tödlichen Medikamente erhalten, den Ärzten, die sie verschreiben, droht aber eine Gefängnisstrafe.“ Er kann sich nicht vorstellen, dass sich am Ende zwei höchstrichterliche Urteile widersprechen werden.

Was genau ändert sich durch den Leipziger Richterspruch?

„Patienten haben jetzt das Recht, vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eine tödliche Menge Betäubungsmittel zu bekommen“, sagt Matthias Töns. Bislang war das vom Betäubungsmittelgesetz kategorisch ausgeschlossen und muss nun im Einzelfall geprüft werden. Was genau eine extreme Ausnahmesituation ist, hat das Gericht bislang nicht definiert.

Wie häufig kommt Beihilfe zur Selbsttötung vor?

Dazu gibt es keine Statistiken. Nach Ansicht von Matthias Thöns sind Fälle von assistiertem Suizid aber extrem selten. Der 50-Jährige berichtet, dass er vor der Gesetzgebung von 2015 von 400 Patienten im Jahr allenfalls bei einem in diese Dilemmasituation kam.

Ist das Urteil womöglich ein Dammbruch?

Peter Dabrock, der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates.
Peter Dabrock, der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates. © BM | imago/ Reinhard Kurzendörfer

Der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Peter Dabrock, glaubt das nicht: „Das Gericht hat ja ausdrücklich geurteilt, dass der Zugang zu einem Betäubungsmittel nur ,in einem extremen Einzelfall’ nicht verwehrt werden darf“, sagt der evangelische Theologe. „Damit ist jedenfalls ausgeschlossen, dass man dieses Urteil verwendet, um generell eine geschäftsmäßige Suizidassistenz zu legitimieren.“

Wichtig ist Dabrock aber die Frage, welche Kriterien das Gericht anlegt, um einen „extremen Einzelfall“ zu bestimmen. „Liegt eine Notsituation nur vor, wenn keinerlei palliative Behandlungsmöglichkeiten bestehen, oder kommt demnächst die Forderung auf, dass schon andere Situationen zu gelten haben?“ Dabrock vermutet, dass sich an das Urteil eine intensive gesellschaftliche Debatte anschließen wird.

Warum kritisieren Patientenschützer das Urteil so scharf?

Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, sieht in dem Urteil einen Paradigmenwechsel. „Bisher waren wir uns darüber einig, dass der Staat einen Suizid niemals befördern soll.“ Jetzt werde ein gesellschaftliches Signal gesendet, dass Selbsttötung eine normale Option sei. Das sei ein Schlag für die Suizidprävention. Zudem sieht Brysch viele Fragezeichen, wie die Einzelfälle künftig identifiziert und gehandhabt werden sollen. (mit Material von dpa)

Anmerkung der Redaktion: Aufgrund der hohen Nachahmerquote berichten wir in der Regel nicht über Suizide oder Suizidversuche, außer sie erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Wenn Sie selbst unter Stimmungsschwankungen, Depressionen oder Selbstmordgedanken leiden oder Sie jemanden kennen, der daran leidet, können Sie sich bei der Telefonseelsorge helfen lassen. Sie erreichen sie telefonisch unter 0800/111-0-111 und 0800/111-0-222 oder im Internet auf www.telefonseelsorge.de. Die Beratung ist anonym und kostenfrei, Anrufe werden nicht auf der Telefonrechnung vermerkt.