Berlin. Das leicht gestiegene Armutsrisiko ist Anlass zum Handeln, nicht zur Panikmache. Eine Debatte über Armutsbekämpfung ist notwendig.

Fast wäre es schon zur Routine geworden: Einmal im Jahr legen Sozialverbände einen Armutsbericht vor und erzeugen mit gern auch alarmistischen Aussagen zur Lage im Land kurzzeitig eine gewisse Aufregung. Und danach: passiert wenig. Oder nichts. Schon möglich, dass es diesmal anders läuft. Der am Donnerstag präsentierte Armutsbericht erscheint rechtzeitig zum Bundestagswahlkampf, in dem die soziale Gerechtigkeit und das Schicksal von „Abgehängten“ einen größeren Stellenwert einnehmen dürfte.

Zudem sind die Kernzahlen durchaus irritierend bis beunruhigend: Trotz der guten wirtschaftlichen Entwicklung nimmt der Anteil der Menschen, die in Deutschland von Armut zumindest bedroht sind, nicht ab, sondern wieder leicht zu – fast jeder Sechste ist betroffen, in Berlin deutlich mehr.

Finanzierbarkeit und Menschenwürde

Das sollte, jenseits der Politroutine, Anstoß sein für eine ernsthafte Debatte über Armutsbekämpfung im Spannungsfeld von Finanzierbarkeit und Menschenwürde. Ob es auch dazu kommt? Leider haben die Sozialverbände mit ihrem Hang zur Skandalisierung dem Anliegen einen Bärendienst erwiesen. Wer so kühn etwa ein statistisch ermitteltes „Armutsrisiko“ zur tatsächlichen „Armut“ umdeutet, macht es den Kritikern leicht.

Die Statistik hat ihre Tücken, weshalb die schrille Tonart der Sozialverbände deplatziert ist: Gemessen wird ja nicht Not und Entbehrung, sondern das Ausmaß der Ungleichheit zwischen der Mehrheit der Gesellschaft und denen, die materiell vorübergehend oder dauerhaft weit unten angesiedelt sind. Steigt der gesellschaftliche Wohlstand, erhöht sich automatisch die Armutsrisikoschwelle. Nach dieser Statistik droht selbst vielen Studenten Armut, obwohl sie zwar naturgemäß eine Zeit lang über wenig Geld verfügen, dafür auf späteren Wohlstand hoffen dürfen.

Erhöhung der Sozialtransfers

Ein Bericht, der sich auf dieser Grundlage bewegt, liefert also sicher kein vollständiges Bild von der Armut im Land. Die hat sehr unterschiedliche Ursachen und Gesichter, weshalb die reflexhafte Forderung nach einer Erhöhung der Sozialtransfers nicht weiterhilft. Aber eine Skizze zur Entwicklung einkommensschwacher Schichten liefern die Daten dann doch.

Deshalb wäre es bei allen berechtigten Einwänden falsch, den dahinter liegenden Trend zu ignorieren: Die Zahl derjenigen, die Gefahr laufen, materiell von der Lebensweise der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden, wächst. Ein Patentrezept dagegen gibt es nicht. Nicht alles, was wünschenswert wäre, ist auch bezahlbar. Schon deshalb ist die Bekämpfung von Ursachen gefragt, nicht das Herumdoktern an Symptomen.

Es fehlt an Kitaplätzen

Hat die Politik da wirklich genug getan? Eher nicht, wenn man die wichtigsten Gruppen der Betroffenen betrachtet: Dass Alleinerziehende ein besonders hohes Armutsrisiko tragen, ist seit Langem bekannt. Einiges ist verbessert worden – aber noch immer fehlt es etwa an Kitaplätzen mit Betreuung auch zu Randzeiten, damit der Einstieg in den Job gelingt. Dass Kinderarmut zu oft eine gefährliche Spirale schlechter Bildungs- und Beschäftigungschancen in Gang setzt, wird in Sonntagsreden gern beklagt – aber entschlossen gehandelt hat die Politik noch nicht.

Auch die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit, also einer der zentralen Armutsursachen, wird bislang eher halbherzig betrieben. Schließlich die Rentner: Wenn die Politik nicht bald gegensteuert, droht Altersarmut auf breiter Front. Noch allerdings kann davon, anders als der Bericht suggeriert, keine Rede sein. Nicht nur hier gilt: Wer Armut bekämpfen will, braucht eine klare Analyse, einen kühlen Kopf und langen Atem – Panikmache schadet nur.