Berlin. Die Armutsquote ist auf den neuen Rekordwert von 15,7 Prozent gestiegen, beklagt ein neuer Armutsbericht. Kritiker melden Zweifel an.

Sozialverbände schlagen Alarm: Trotz der guten wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland nehme die Armut wieder zu, heißt es im Armutsbericht 2017, den der Paritätische Wohlfahrtsverband gemeinsam mit anderen Organisationen am Donnerstag vorlegte. Die Opposition macht die Bundesregierung verantwortlich – doch es gibt auch massive Kritik an dem Bericht.

Wie ist die Entwicklung?

Ungünstig. „Wir haben es wieder mit einem zunehmenden Trend der Armut zu tun“, sagt Verbandsgeschäftsführer Ulrich Schneider. Der Wohlfahrtsverband behauptet, dass 2015 „rund 12,9 Millionen Menschen unter der Grenze der Einkommensarmut lebten“. Die Armutsquote sei damit auf 15,7 Prozent gestiegen, der höchste Wert im vereinten Deutschland – und ein Plus von 0,3 Prozentpunkten gegenüber 2014. Im Vorjahr schien es, als sei der Aufwärtstrend gestoppt. 2005 lag die Armutsquote noch bei 14,7 Prozent.

Wohlfahrtsverband: Armut breitet sich in Deutschland aus

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    Wie wird die Armut gemessen?

    Die Verbände nutzen und interpretieren Daten des Statistischen Bundesamtes, das mit einer Haushaltsstichprobe jährlich das Armutsrisiko misst. Als armutsgefährdet gelten demnach Menschen in Haushalten, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte beträgt – netto, Sozialleistungen eingeschlossen. Ein kinderloser Single ist demnach aktuell mit einem Einkommen unter 942 Euro im Monat arm oder von Armut gefährdet. Bei einem Paar ohne Kinder liegt diese Armutsschwelle bei 1413 Euro, kommen zwei Kinder hinzu, steigt die Schwelle auf 1978 Euro.

    Die Methode ist umstritten, weil sie nur relative Armut misst – steigen die Einkommen auf breiter Front, wächst die Armutsgefährdung, ohne dass sich die materielle Lage der Betroffenen verschlechtert hätte. Die Verbände lehnen obendrein den Begriff „Armutsgefährdung“, der der Statistik zugrunde liegt, als „diffus“ ab – sie sprechen vereinfacht von „Armut“.

    Welche Regionen sind betroffen?

    Als „besondere Problemregionen“ nennt der Bericht Berlin und NRW. In Berlin steige die Armut seit 2006 kontinuierlich, mittlerweile sei die Quote die zweithöchste der Länder (22,4 Prozent). In NRW sei im Vergleich zu 2005 der stärkste Anstieg auf jetzt 17,5 Prozent gemessen worden. Besonders betroffen ist demnach das Ruhrgebiet, wo jeder fünfte Einwohner rechnerisch zu den Armen gezählt werden müsse.

    Die Unterschiede zwischen den Bundesländern sind beträchtlich. Am besten schneiden Bayern und Baden-Württemberg mit Armutsquoten von 11,6 und 11,8 Prozent ab – Schlusslicht ist Bremen (24,8 Prozent). Niedersachsen liegt bei 16,5 Prozent, Thüringen bei 18,9 Prozent, Hamburg bei 15,7 Prozent.

    Im Zehnjahresvergleich habe sich die Lage in allen ostdeutschen Ländern mit Ausnahme Berlins verbessert, erklärte Schneider. Doch in den West-Ländern sei die Armutsquote gestiegen, außer in Hamburg und Bayern.

    Wer trägt die größten Risiken?

    Besonders betroffen sind vor allem Arbeitslose, aber auch Alleinerziehende, Familien mit mindestens drei Kindern, Menschen mit niedriger Qualifikation und Ausländer. Spürbar gestiegen ist das Armutsrisiko von Rentnern – deren Armutsrisiko stieg innerhalb von zehn Jahren von 10,7 auf 15,9 Prozent.

    Was fordern die Verbände?

    Sie hoffen zur Bundestagswahl auf einen „Gerechtigkeitswahlkampf“. Notwendig sei eine Kehrtwende zu einer „solidarischen Steuer- und Finanzpolitik“ - für Verbesserungen in der Arbeitsmarktpolitik, bei der Rente oder der Bildung müsse der Staat zweistellige Milliardensummen investieren.

    Wie sind die Reaktionen?

    Die Linkspartei warf der Bundesregierung „Versagen“ vor und forderte eine „Umverteilung von oben nach unten“. Auch die Grünen plädierten für Reformen. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund nannte den Bericht dagegen „undifferenziert“; die Zahlen sagten nichts über die tatsächliche Situation der Betroffenen aus.

    Auch das Bundesarbeitsministerium nannte die Darstellung „verkürzt“. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) kritisierte, die Armutsgefährdungsquote sei nicht aussagekräftig genug: Von Einkommensarmut mit erheblichen materiellen Entbehrungen seien in Deutschland tatsächlich nur drei Prozent der Bevölkerung betroffen.