Berlin. EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos über die Folgen der Flüchtlingskrise – und die Versuche, mit Nordafrika zu kooperieren.

Als Dimitris Avramopoulos 2014 EU-Kommissar wurde, ahnte er nicht, dass nur Monate später sein Job zu den härtesten in Brüssel werden würde. Der Grieche leitet die Ressorts Inneres und Migration. Flüchtlingskrise und Terrorismus fallen in seinen Bereich. Zeit für ein Gespräch mit einem Kommissar im Ausnahmezustand.

Herr Avramopoulos, wie bedrohlich ist die Flüchtlingskrise für den Zusammenhalt Europas?

Dimitris Avramopoulos: Wir müssen uns den Populisten und Extremisten in den Weg stellen, um die Zukunft des europäischen Projekts zu schützen. Momentan gefährden die Populisten den europäischen Traum. Manche dachten vor ein paar Jahren, die Finanzkrise könnte Europa gefährden. Wir haben dies allerdings durch gemeinsame europäische Antworten wie der Bankenunion verhindern können. Gleiches gilt auch in der Flüchtlingskrise. Mir scheint, als hätten viele Menschen vergessen, was auf diesem Kontinent noch vor einigen Jahrzehnten los war.

Nicht nur die Populisten, auch viele EU-Bürger fragen sich, ob Europa die Fluchtkrise bewältigt.

Avramopoulos : Europa ist von der hohen Zahl der Flüchtlinge überrascht worden. Und Europa war nicht vorbereitet auf all diese Menschen. Jetzt ist das anders. Die EU-Kommission hat im ersten Halbjahr 2015 eine Migrationsagenda und eine Sicherheitsagenda beschlossen. Wir haben mit allen EU-Staaten eine Verteilung der Flüchtlinge beschlossen – auch wenn sich leider manche EU-Staaten aus innenpolitischen Gründen nicht daran halten wollen. Und wir haben jetzt einen Europäischen Grenz- und Küstenschutz, der unsere gemeinsamen Grenzen sichert.

Wer blockiert denn Ihre Flüchtlingspolitik?

Avramopoulos : Ich will jetzt nicht alle Regierungen aufzählen, aber es gibt einige, die klar opponieren und den Erfolg einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik nicht wollen.

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    Sie sprechen von Ungarn und Polen, aber auch von Frankreich, oder?

    Avramopoulos : Ich möchte nicht mit dem Finger auf diese oder jene Regierung zeigen. Es sind mehrere Regierungen, die mit Verweis auf die öffentliche Meinung eine Verweigerungshaltung einnehmen. Manche Regierungen sollten sich an Deutschland ein Beispiel nehmen. Die vielen Menschen, die Flüchtlinge am Bahnhof versorgt haben, haben echte Solidarität vorgelebt.

    Das sehen einige EU-Staaten aber anders.

    Avramopoulos : Kanzlerin Angela Merkel hat eine außergewöhnlich gute Arbeit in der Flüchtlingskrise geleistet. Ihre Entscheidung vom September 2015, zehntausend Flüchtlinge aus Ungarn in Deutschland aufzunehmen, steht symbolhaft für die europäischen Werte der Humanität und Solidarität für Schutzsuchende. Die Lage auf der Balkanroute war dramatisch. Es gab keine andere Wahl für Angela Merkel: Sie musste so handeln.

    EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos mit Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU, re.) Mitte Februar in Berlin bei an einer Pressekonferenz zum Thema zu Migration und Sicherheit teil.
    EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos mit Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (CDU, re.) Mitte Februar in Berlin bei an einer Pressekonferenz zum Thema zu Migration und Sicherheit teil. © dpa | Maurizio Gambarini

    In Washington sitzt mit US-Präsident Donald Trump offenbar der Anführer der Anti-Flüchtlings-Politik. Welchen Einfluss hat seine Haltung auf Europa?

    Avramopoulos : Der Ausgang der US-Wahl wird Europa viel stärker prägen als der britische EU-Austritt. Mit seiner Flüchtlingspolitik widerspricht er der Tradition Amerikas. Damit muss Europa umgehen.

    Was kommt auf Deutschland zu?

    Avramopoulos : Deutschland hat die Grenzen seiner Aufnahmekapazitäten fast erreicht. Deutschland hat Europa und der ganzen Welt gezeigt, was eine Nation auf Grundlage von humanitären und demokratischen Werten zu leisten vermag. Mein Ziel ist es alle EU-Staaten von einer gemeinsamen Linie zu überzeugen. Sie arbeiten mittlerweile schon viel besser zusammen als noch vor zwei Jahren. Wir haben den europäischen Grenzschutz ausgebaut mit einer Reserve von 1500 Frontex-Beamten, wir haben die nationalen Datenbanken etwa durch Eurodac besser verbunden. Das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei ist eine Erfolgsgeschichte.

    Mit Tausenden Geflüchteten, die auf den griechischen Inseln feststecken und im Winter in Zelten schlafen. Das nennen Sie einen Erfolg?

    Avramopoulos : Alle Flüchtlinge müssen auf den Inseln registriert und versorgt werden, bis über ihren Asylantrag entschieden ist. Das dauert oft Monate. Das ist eine große Belastung für die griechischen Inseln. Wird ein Antrag auf Asyl abgelehnt, werden die Migranten noch von den griechischen Inseln in die Türkei zurückgebracht. Das muss alles schneller klappen, und wir unterstützen die griechischen Behörden dabei.

    Zurück in die Türkei werden derzeit aber nur sehr wenige geschickt.

    Avramopoulos : Die türkische Regierung akzeptiert nur Flüchtlinge, die direkt von den Inseln zurück in die Türkei abgeschoben werden. Auch hier müssen die Verfahren effizienter werden. Nicht alle Last kann bei den Inseln bleiben.

    Europa will auch Abkommen mit nordafrikanischen Staaten schließen. Kann das funktionieren?

    Avramopoulos : Manche Staaten kooperieren, manche verweigern sich. Deswegen muss die EU mit besonderen Mitteln arbeiten und maßgeschneiderte Partnerschaften anbieten. Man sollte nicht vergessen, dass niemand in diesen Staaten so viel in Entwicklungshilfe investiert wie die EU. Die nordafrikanischen Staaten müssen verstehen, was auch finanziell auf dem Spiel steht. Sie tun gut daran zu kooperieren. Sie wollen mehr Hilfe von Europa, also müssen sie uns auch helfen.

    Was tut Europa dafür?

    Avramopoulos : Jedes unserer Partnerländer steht vor ganz eigenen Herausforderungen und Problemen. Deswegen verfolgen wir den Ansatz individueller maßgeschneiderter Migrationspartnerschaften. Wo es noch an der Bereitschaft zur Rücknahme mangelt, müssen wir mit gezielten Anreizen und dem kollektiven Einfluss der EU-Mitgliedstaaten arbeiten. Wir können im Übrigen auch innerhalb Europas noch mehr tun. Bisher scheitern Rückführungen oft an zu langsamen und komplizierten Verfahren oder weil die Rückzuführenden kurzfristig nicht mehr auffindbar sind. Die Kommission wird deshalb am Donnerstag neue Empfehlungen aussprechen, damit die Mitgliedstaaten die Möglichkeiten der EU-Gesetzgebung hier noch besser nutzen.

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      Innenminister Thomas de Maizière fordert Aufnahmezentren in Nordafrika. Unterstützen Sie ihn?

      Avramopoulos : Das Thema haben wir auf EU-Ebene noch nicht besprochen. Vor allem in Libyen ist die Lage nicht stabil. Nur ein schmaler Streifen an der Küste steht unter staatlicher Kontrolle, im Rest des Landes herrscht Chaos. Auch die Zusammenarbeit mit Tunesien kann verbessert werden. Jedes dieser Länder hat seine spezifischen Probleme.

      Ist Afghanistan sicher genug, um Flüchtlinge dorthin zurück zu schicken?

      Avramopoulos : Es gibt sichere Gebiete in Afghanistan. Aber man muss sich wirklich sehr gut in den einzelnen Regionen auskennen, um eine verlässliche Aussage über die Sicherheit machen zu können. Jeder Fall muss einzeln geprüft werden.

      Der Anschlag von Berlin hat gezeigt: Einzelne Terroristen missbrauchen die Fluchtrouten. Wie groß ist das Sicherheitsrisiko?

      Avramopoulos : Es gibt wenige Ausnahmen wie den Anschlag in Berlin, der von einem Tunesier begangen wurde. Fast alle Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa kommen, fliehen aber genau vor diesen Terroristen. Das Problem ist, dass in Sicherheitsfragen Europa noch sehr zersplittert ist. Polizisten und Geheimdienste müssen besser mit anderen Behörden zusammenarbeiten. Das gilt innerhalb der EU, das gilt aber sogar innerhalb eines EU-Staates.

      Und es gibt noch keinen europäischen Geheimdienst, der Terroristen aufspürt.

      Avramopoulos : Diese Idee eines europäischen Geheimdienstes hatte ich bereits vor einem Jahr in den Raum gestellt, aber sie wurde schnell von den Mitgliedsstaaten verworfen. Einerseits will jedes Land von den Informationen des Nachbarn profitieren, andererseits teilt ein EU-Land nur ungern die eigenen Erkenntnisse. Das darf nicht sein. Hier sind wir einen Schritt weiter: Es wird ein gemeinsames EU-Ein- und Ausreisesystem geben, mehrere Zentren arbeiten am Anti-Terror-Kampf in Europa zusammen. Auch die Internetanbieter wie Twitter und Facebook arbeiten besser mit europäischen Behörden zusammen. Doch der Kampf gegen IS-Terroristen wird uns noch Jahre beschäftigen.

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        Weiß die EU mittlerweile, wer jeder einzelne Flüchtling ist, der in Europa ankommt?

        Avramopoulos : Hier hat Europa große Fortschritte gemacht: Mittlerweile werden von jedem Flüchtling an der EU-Außengrenze in Italien oder Griechenland Fingerabdrücke genommen, und er wird zudem von Experten interviewt zu seiner Herkunft, seinem Alter, seiner Geschichte.

        Und trotzdem bleibt die Unsicherheit, ob der Geflüchtete richtige Angaben zu seiner Person macht.

        Avramopoulos : Das System funktioniert. Wir können auffällige Personen schnell identifizieren. Und wir erkennen, ob eine Person schon einmal eingereist ist nach Europa und wo sie sich hier bewegt hat. Doch jedes Datensystem ist nur so gut, wie es von jedem einzelnen Beamten in einem europäischen Staat gepflegt wird. Hier erwarte ich von jedem einzelnen Polizisten europäisches Denken bei der Sicherheit.