Berlin. Türkische Regierungsmitglieder werben in Oberhausen und Köln für umstrittenes Referendum zum Präsidialsystem. Sie ernten vorab Protest.

Die türkische Regierung macht Wahlkampf mit Tausenden Zuschauern. Nicht in Istanbul oder Ankara, nicht in der türkischen Provinz. Sondern in Köln und Oberhausen. 10.000 Anhänger der Partei von Präsident Recep Tayyip Erdogan, AKP, wollen am Samstag in die Arena nach Oberhausen kommen und den türkischen Ministerpäsidenten Binali Yildirim (AKP-Chef) feiern.

Am Donnerstagabend reiste Außenminister Mevlüt Cavusoglu vom G20-Treffen in Bonn nach Köln und hielt dort im Senatshotel einen Vortrag. Deutsche Politiker gehen davon aus, dass beide unter den Türken in Deutschland für das umstrittene Referendum werben wollen.

© dpa | Sedat Suna

Selten stand so viel auf dem Spiel wie jetzt, für Erdogan und seine Gegner: In zwei Monaten sollen die Wähler über eine Verfassungsänderung abstimmen, die Erdogan eine nahezu unumschränkte Machtfülle verschaffen würde – einschließlich des Rechts, am Parlament vorbei Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen. Seit Donnerstag ist der Wahlkampf offiziell eröffnet. Und über Erdogans Zukunft wird auch in Deutschland entschieden. Unter den Deutschtürken haben der Staatschef und seine Regierungspartei AKP prozentual noch mehr Anhänger als unter der türkischen Bevölkerung. Auch sie können am 16. April über die Verfassungsreform abstimmen.

Scharfe Kritik an den Auftritten in NRW

Unter deutschen Politikern stoßen die Auftritte der AKP-Spitzenpolitiker in Nordrhein-Westfalen auf erhebliche Gegenwehr. Die Dortmunder Bundestagsabgeordnete Severin Dagdelen von der Linke bezeichnete die politische Veranstaltung mit rund 10.000 Erdogan-Anhängern in Oberhausen als „Propagandatour, die integrationsfeindlich für die hier lebenden Menschen ist“.

FDP-Chef Christian Lindner forderte die Bundes- und Landesregierung auf, den Auftritt zu verhindern. „Deutschland ist keine Werbeplattform, um für die Entdemokratisierung, die Abwicklung eines Rechtsstaats und die Einführung der Todesstrafe zu werben“, so Lindner. Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz (SPD) warnte, die türkische Regierung lege es darauf an, die Gräben zwischen den in Deutschland lebenenden Türken zu vertiefen.

Unter den Türken in NRW hat Erdogan traditionell eine große Anhängerschaft. Mit dem Islamverband Ditib und der Union Europäischer Türken in Deutschland (UETD) haben zudem zwei mächtige regierungsnahe Organisationen hier ihren Sitz. Die Bundesregierung mahnte die Teilnehmer des Auftritts vom Samstag zur Zurückhaltung. „Wir gehen davon aus, dass alle Beteiligten sicherstellen werden, dass nicht innertürkische Konflikte auf deutschem Boden ausgetragen werden“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert.

Spionage in Deutschland gegen Erdogan-Gegner

Die Kundgebung ist umstritten, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Spionageermittlungen gegen Imame des vom türkischen Staat gesteuerten Moscheeverbandes Ditib. Sie sollen in Deutschland mutmaßliche Anhänger des Erdogan-Erzfeindes Fethullah Gülen ausspioniert haben.

Chancen, den Auftritt noch zu verhindern, sind indes gering. Das NRW-Innenministerium verweist auf das im Grundgesetz garantierte Recht auf Versammlungsfreiheit. Es sei sogar „schrankenlos“ geschützt, wenn es sich, wie in Oberhausen, um ein Treffen in geschlossenen Räumen handele, erklärte ein Sprecher. Die Oberhausener Polizei richtet sich derweil auf eine Großlage an der Arena ein. Sie liegt direkt neben dem viel besuchten Einkaufszentrum Centro.

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