Berlin. Erst der Türkei-Deal, jetzt die Maghreb-Staaten – Kanzlerin Angela Merkel will die Migration in Deutschland stärker kontrollieren.

Natürlich war der Gast auf dem Breitscheidplatz. Die Geste von Youssef Chahed war wichtig. Leicht wird sie ihm nicht gefallen sein. Man kann sich vorstellen, wie unangenehm es dem tunesischen Ministerpräsidenten gewesen sein muss, dass mit Anis Amri ein Landsmann den Anschlag in Berlin verübt hat – so wie man 2011 in Deutschland peinlich berührt war, als nur eine Spur der Attacke auf das World Trade Center nach Hamburg führte.

Tunesien trägt nicht die Verantwortung für den Anschlag in Berlin. Amri war schon fünf Jahre in Europa. Womöglich hat er sich erst hier radikalisiert. Das ist sogar sehr plausibel. Tunesien hat selbst ein Problem mit dem Salafismus. Erschreckend viele Dschihadisten kommen aus dem Land, ihre Zahl geht in die Tausende. Das ist insofern erklärbar, als Tunesien in der muslimischen Welt als relativ liberale Gesellschaft gilt. So wie die EU daran interessiert ist, die Demokratisierung zu stützen, gibt es auch eine massive Gegenbewegung.

Folter und Polizeiwillkür an der Tagesordnung

Unter dem Deckmantel der Terrorabwehr sind laut Amnesty International wiederum Folter und Polizeiwillkür an der Tagesordnung. Das ist der Teil der Wahrheit, den Bundeskanzlerin Angela Merkel ausblendet, wenn sie Tunesien als „Hoffnungsprojekt“ bezeichnet. Da ist der Wunsch Vater der Strategie. Für nächste Woche hat sich die Kanzlerin in Algerien angesagt. So wie die Türkei die EU im Osten vor Flüchtlingen abschirmen soll, so sollen die nordafrikanischen Staaten die Südflanke Europas schützen.

Merkel will schnellere Rückführung nach Tunesien

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    Das Interesse ist offensichtlich: Flüchtlingsabwehr und eine bessere Rückführung von Asylbewerbern. So viele Skrupel Merkel im Spätsommer 2015 hatte, die deutschen Grenzen zu schließen, so wenige zeigt sie im Bemühen um Abschottung. Da spürt man, dass mit der Bundestagswahl im September ein Zahltag näher rückt.

    Flüchtlingsstrom aus Afrika hält an

    Es kommen nicht viele Flüchtlinge aus Tunesien. Das Problem ist Libyen. Solange dort Chaos herrscht, wird der Flüchtlingsstrom aus Afrika anhalten. Die Instabilität ist wiederum der Nährboden für den „Islamischen Staat“.

    Es gibt gute Gründe, die Maghreb-Staaten zu unterstützen, um die Region zu stabilisieren. Wie im Fall der Türkei kann man von einem „Deal“ reden, von einem Geschäft, buchstäblich. Tunesien bekommt direkte Unterstützung und erhofft sich mehr Investitionen. Und schon eine Reisewarnung aus Deutschland wäre für die Tourismusindustrie verheerend.

    Tunesien ließ sich zu viel Zeit

    Was kann man Tunesien zumuten? Sicher nicht Auffanglager für Flüchtlinge. Das würde die Spannungen im Land nur erhöhen. Wohl hat Tunesien eine Verantwortung dafür, abgelehnte, ausreisepflichtige Asylbewerber wieder aufzunehmen. Das ist zumutbar, auch weil die Zahlen – es sind 1500 Menschen – überschaubar sind. Die gleiche Argumentation gilt übrigens auch im Verhältnis zu Marokko und Algerien.

    In der Vergangenheit hat sich Tunesien aufreizend viel Zeit damit gelassen, Passersatzpapiere zu beschaffen. Im Fall Amri zog sich das Jahre hin, schon die Italiener hatten 2011 seine Ausweisung vorangetrieben. Amri war kein Einzelfall. In Nordrhein-Westfalen, wo viele Flüchtlinge aus Nordafrika gelandet sind, dauerte 2016 dem Vernehmen nach die schnellste Lieferung von Papieren aus Tunesien fünf Monate. Wohlgemerkt: der Express-Service.

    Diskussion um Einstellung von Unterstützung lief ins Leere

    Da hört die Toleranz auf, zumal, wenn es wie bei Amri um Gefährder geht. Nicht zufällig wurde Anfang des Jahres darüber diskutiert, unkooperativen Staaten zur Strafe die Unterstützung zu entziehen. Merkel hat die Debatte innerhalb ihres eigenen Kabinetts ins Leere laufen lassen. Noch einmal wird die Kanzlerin das nicht vertreten können, wenn sich nichts ändert. Das sollte Youssef Chahed auch wissen.