Berlin. Kanzlerin Merkel will Abschiebungen von Flüchtlingen beschleunigen. Sie dringt auf einen Stabilisierungsplan für die Maghreb-Region.

Youssef Chahed bedauert, was in Berlin passiert ist. „Uns tut es sehr leid“, versichert der Ministerpräsident. „Anis Amri repräsentiert ganz sicher nicht Tunesien“, sagt er. Der tunesische Regierungschef hat am Dienstag eine Vielzahl von Gesprächen in der Hauptstadt geführt, im Kanzleramt mit Hausherrin Angela Merkel (CDU) zu Mittag gegessen und danach in der Regierungszentrale den Journalisten Rede und Antwort gestanden, bevor er zum Breitscheidplatz aufbricht. Gemeinsam legen sie dort weiße Rosen nieder.

Es sei der Ort, der Deutschland und Tunesien „auf tragische Weise“ miteinander verbinde, sagt Merkel. Sie stellt das sachlich fest, ohne jeden vorwurfsvollen Unterton. Ihr Gast sagt, die Frage sei doch, „wie kam es zu dieser Gehirnwäsche, zu dieser Radikalisierung?“.

Merkel konfrontiert Chaheds mit Zahlen

Nach Chaheds Theorie ist Amri erst in Europa zu einem Islamisten und Terroristen geworden. Die Tunesier haben allerdings selbst ein gravierendes Problem mit den Dschihadisten. Angeblich sind es fast 3000, laut UN-Schätzungen 5000, und in deutschen Sicherheitskreisen ist sogar von rund 10.000 Kämpfern tunesischer Herkunft die Rede.

Merkel will schnellere Rückführung nach Tunesien

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    Amri hat für Chahed gleichwohl ein politisches Nachspiel. Der Fall des Gefährders ist ein Beispiel dafür, wie sehr sich Tunesien sperrt, abgelehnte und ausreisepflichtige Asylbewerber wieder aufzunehmen. Im vergangenen Jahr waren es gerade einmal 116 Menschen und 2015 sogar nur 17. Die Zahl kann Merkel ihrem Gast nicht ersparen. Sie steht in keinerlei Relation zu den 1515 Tunesiern, die eigentlich Deutschland verlassen müssten, aber geduldet werden.

    Merkel und de Maizière machen Druck

    „Wir können diesen Prozess verbessern und reibungsloser gestalten,“ sagt die Kanzlerin. Das ist eine wohldosierte Kritik in der Öffentlichkeit. Hinter verschlossenen Türen ist der Ton drängender. Auch Innenminister Thomas de Maizière (CDU) hat auf die Tunesier eingeredet.

    Der CDU-Mann gehört zu vielen Politikern in der Großen Koalition, die mehr Druck auf Staaten ausüben wollen, die Ausweispapiere wie im Fall Amri zu spät oder gar nicht liefern und so Abschiebungen erschweren. De Maizière ist selbst unter Druck geraten, vornehmlich aus der SPD und von den Bundesländern.

    Sicherheitslage ist labil

    Die Abschiebungsproblematik besteht in allen drei Maghreb-Staaten, auch wenn die Probleme unterschiedlich gelagert sind. Algerien und Marokko stellen leichter Reisepapiere aus, lehnen aber Sammelabschiebungen ab – mit dem Ergebnis, dass die Flüchtlinge nur in Linienmaschinen heimgeflogen werden können und dass die Zahlen ähnlich niedrig sind wie im Fall von Tunesien. 2016 wurden lediglich 119 Marokkaner und 169 Algerier aus Deutschland abgeschoben. Im Fall Tunesiens heißt es inzwischen, dass sich die Praxis nach Amri schon verbessert hat.

    Auch Chahed stellt weitere Fortschritte in Aussicht. Merkel wird am nächsten Montag nach Algerien fliegen und noch im Frühjahr Chaheds Berlin-Besuch in Tunesien erwidern. Sie will den Druck hochhalten. Aber sie darf auch nicht überziehen. Denn es geht um lauter Staaten im Umbruch, die Sicherheitslage ist überall labil. Tunesien gilt sogar noch als die liberalste Gesellschaft in der Region und als eine funktionierende Demokratie.

    Libyen als Haupttransitland

    Für Merkel ist Tunesien ein „Hoffnungsprojekt“. Nach dem arabischen Frühling 2011 ist Tunesien der Übergang zu einem demokratischen System nach westlichem Vorbild gelungen. Halbwegs. Erst am Vortag hatte die Menschenrechtsorganisation „Amnesty International“ einen Bericht veröffentlicht, wonach im nordafrikanischen Land Folter und Polizeiwillkür weiter an der Tagesordnung seien. Prompt hatte die Opposition Merkel davor gewarnt, mit Tunesien einen Deal zu machen wie mit der Türkei.

    Die Balkan-Route ist nicht vollständig, aber großteils geschlossen. Und die Türkei hält sich nach Merkels Verständnis an das Flüchtlingsabkommen mit der EU. Also gerät in der Folge die Westmittelmeer-Route zunehmend in den Fokus der Migrationsströme. Allein 2016 kamen mehr als 181.000 Menschen über diese Route in Europa an. Libyen ist das Haupttransitland. Aus Tunesien kommt nur ein Prozent der Geflüchteten.

    Ausbildungsnetzwerk für Marine

    Mit dem „Projekt Seepferdchen“ hat die EU ein Überwachungs- und Ausbildungsnetzwerk für die Marine geschaffen, um die zentrale Mittelmeerroute für Flüchtlinge zu schließen. Der nordafrikanische Krisenbogen reicht von Ägypten im Osten über Libyen und seinen Nachbarstaaten Algerien und Tunesien bis nach Marokko im Westen. Die Europäer möchten allen fünf Staaten die Rolle von Türstehern zuweisen. Sie wollen vor Ort Auffanglager aufbauen, um Flüchtlingen die Gefahr zu ersparen, „im Mittelmeer in große Lebensgefahr zu kommen“, wie Merkel argumentiert.

    Es ist eine alte Idee, die 2004/05 schon der damalige Innenminister Otto Schily (SPD) ins Gespräch gebracht hatte. Damals war von „Hotspots“ in Nordafrika die Rede gewesen, aber daraus wurde nichts. Auch diesmal sind die Realisierungschancen eher gering.

    Marshallplan für Afrika

    Die Kanzlerin will alle drei Maghreb-Staaten Tunesien, Algerien und Marokko unterstützen und so die gesamte Region stabilisieren. Libyen ist der eigentliche Unruheherd und der Ausgangspunkt für etwa 90 Prozent der Flüchtlinge aus Afrika, die über das Mittelmeer nach Europa übersetzen. Aber da in Libyen noch keine richtige staatliche Ordnung herrscht, fehlen die Ansprechpartner.

    Also versucht man alternativ, seine Nachbarn zu stützen. Schon ist von einem Marshallplan für Afrika die Rede. Algerien hat eine aktive Rolle gespielt, um im Nachbarland eine Einheitsregierung zu bilden.

    Merkel wirbt für „Beratungszentren“ in Tunesien

    Tunesien wiederum hat nach dem Ausbruch des arabischen Frühlings und dem Bürgerkrieg nach 2011 allein über 1,6 Millionen Flüchtlinge aus Libyen aufgenommen, wie Chahed in Berlin in Erinnerung ruft. Merkel plädiert für „Beratungszentren“ in Tunesien. Dort sollen die Neuankömmlinge verpflegt, versorgt und zur Umkehr – mit Prämien – bewegt werden.

    Demnächst soll Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) für den Plan in der Region werben. Von Auffanglagern redet die Kanzlerin nicht. Das Wort sei, so Merkel, „eh nicht Teil meines Sprachschatzes“.

    Einen Kommentar zum Thema lesen Sie hier: Merkels Südflanke