Berlin. Der Trend zur Landflucht hält an, gleichzeitig sehnen sich aber viele Städter nach Landleben. Eine Studie zeigt, wie Dörfer überleben.

Der Letzte macht das Licht aus: Seit Jahren warnen Experten vor dem Ende der Dörfer, vor leeren Landstrichen und verödeten Regionen. Doch erst langsam erkennt die Politik, welche Folgen das für die Menschen hat, die dort leben. Angst und Resignation, aber auch Verdruss und Wut auf „die da oben“. Gleichzeitig erlebt das Dorf als Sehnsuchtsort für Großstädter eine neue Blüte. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung hat jetzt in einer neuen Studie untersucht, was den Dörfern helfen könnte.

Warum reden alle übers Dorf?

Es gibt zwei wichtige Gründe. Einmal ist da die Sehnsucht der Großstädter nach dem Landleben, nach einer Idylle jenseits von Hektik und Abgasen. Sie lieben Hofläden und Bauerncafés und träumen vom Haus auf dem Land. Alles, was nach Dorf riecht, verkauft sich deshalb derzeit gut: Hausgemachtes, Handwerkliches, Zeitschriften und Bücher über das Landleben. Juli Zehs Roman „Unterleuten“ über ein brandenburgisches Dorf ist ein Besteller, genauso wie Dörte Hansens „Altes Land“ über ein Nest bei Hamburg oder Saša Stanišićs Roman „Vor dem Fest“ über ein Dorf in der Uckermark.

Das Dorf selbst könnte ein Bestseller sein, so glauben die Experten vom Berlin-Institut, wenn es die richtigen Weichenstellungen dafür gäbe. Im Moment herrscht aber vielerorts statt Idylle vor allem Leere. Wo es keine Läden, keine Ärzte und auch keine Busverbindung mehr gibt, fühlen sich heute viele Dorfbewohner von Wohlstand und Fortschritt abgehängt und von den Regierungen in Land und Bund vergessen. Das ist der zweite Grund, warum das Dorf gerade in den Mittelpunkt rückt: Es ist die Angst der etablierten Parteien vor dem Unmut der Dorfbewohner.

Bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern wählte etwa jeder Vierte im dünn besiedelten Nordosten die AfD. Hinzu kommt der Trump-Effekt: Entscheidend für den Wahlerfolg des neuen amerikanischen Präsidenten war die Proteststimmung der Wähler in den ländlichen Regionen der USA. Union und SPD haben deswegen bereits angekündigt, ihren Wahlkampf ausdrücklich auch an die Wähler auf dem Land zu richten – es geht unter anderem um medizinische Versorgung, Infrastruktur und Digitalisierung.

Wie geht es den Dörfern?

„Das Dorf ist in großer Gefahr“, schreibt Gerhard Henkel in seinem neuen Buch „Rettet das Dorf! Was jetzt zu tun ist“. Der Masse der deutschen Dörfer gehe es nicht gut, warnt der Geografie-Professor der Uni Duisburg-Essen. „Ein Teufelskreis von realen Verlusten und schlechter Stimmung prägt zehntausendfach das Dorfleben.“ Auch die Bevölkerungsforscher des Berlin-Instituts geben keine Entwarnung: „Der Trend weg vom Dorf hält an“, sagt Institutsleiter Reiner Klingholz.

In Deutschland lebt die Hälfte der Bevölkerung in Großstädten mit mehr als 100.000 Bewohnern, die andere in Kleinstädten und Dörfern. Henkel geht von insgesamt 35.000 Dörfern aus – ländlich geprägte Gemeinden mit einer Einwohnerzahl unter 10.000. In den letzten Jahrzehnten hat hier eine stille Revolution stattgefunden: Zwar wird heute noch immer die Hälfte der Landesfläche landwirtschaftlich genutzt, doch dazu werden immer weniger Menschen gebraucht: War 1950 noch jeder vierte Berufstätige bundesweit in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigt, ist es heute nur noch jeder siebzigste. Selbst dort, wo es weit und breit nur Wälder und Felder gibt, trügt der Eindruck: Auch hier verdienen nicht mal vier Prozent der Landbewohner ihr Geld in der Landwirtschaft. Insgesamt gilt also: Das Dorf ist in vielen Fällen nur noch Wohnort für Pendler, Arbeitslose und Rentner. Doch Dorf ist nicht gleich Dorf: Es gibt auch wohlhabende ländliche Regionen – etwa in den Speckgürteln von Berlin oder München oder auch im Oldenburger Münsterland oder im süddeutschen Raum, wo „Hidden Champions“, weitgehend unbekannte, aber in ihrer Branche höchst erfolgreiche Mittelständler, Arbeitsplätze schaffen. Für viele Dörfer in abgelegenen, wirtschaftlich schwachen Regionen dagegen gilt: Die Jungen ziehen weg, die Häuser stehen leer, das Dorfleben stirbt.

Was hilft den Dörfern?

Manche helfen sich längst selbst – und probieren aus, wie man aus der Not eine Tugend machen kann. „Es ist wie bei Asterix“, sagt Klingholz. Es gibt Dörfer, in denen engagierte und ideenreiche Bewohner gegen den Trend schwimmen: Mobile Zahnarztpraxen versorgen ihre Patienten wohnortnah, genossenschaftlich organisierte Dorfläden stemmen sich gegen die Discounter in der zehn Kilometer entfernten Kreisstadt, dörfliche Fahrgemeinschaften ersetzen den öffentlichen Nahverkehr. Die Wissenschaftler vom Berlin-Institut haben zudem im ganzen Land Beispiele gefunden, wo alteingesessene Familienbetriebe und Zugezogene sich dafür engagiert haben, das Land neu zu erfinden – und dabei auch auf die Landliebe der Großstädter setzen: Etwa durch Ökolandbau, Bauernmärkte, Tourismus und regionale Kulturangebote. „Wo immer es möglich war, in diesen Branchen gut zu wirtschaften und Arbeitsplätze zu schaffen, finden sich auch Menschen, die nicht nur diese Arbeit verrichten, sondern tatsächlich gerne auf dem Land leben wollen“, schreiben die Wissenschaftler in ihrer Studie, die vom Verband der land- und forstwirtschaftlichen Familienbetriebe in Auftrag gegeben worden war. „Darunter junge Familien, die dort bezahlbare Unterkunft finden, Ruhe und Platz, wo sich auch Kinder austoben können.“

Wie aber unterstützt man solche Entwicklungen? „Hürden aus dem Weg räumen, Ideen fördern“, sagt Klingholz. Dörfer bräuchten mehr Spielraum – finanziell und gesetzlich. Viele Vorschriften in Deutschland seien für die Versorgung von Ballungsräumen gedacht – nützten aber den schrumpfenden Dörfern nichts. „Warum soll ein Bus nicht Postpakete und Menschen transportieren?“, fragt der Forscher. Oder: Warum sollen kleine Dorfschulen statt zu schließen nicht lieber nach schwedischem Vorbild neue Unterrichtsformen ausprobieren. Zum Beispiel: Pendelnde Lehrer, Fernunterricht, wechselnde Standorte. „Bei vielen Gesetzen brauchen wir Öffnungsklauseln.“ Genauso wichtig: Schnelles Internet. Vieles andere dagegen könnten die Dörfer am besten selbst regeln. Von großen EU-Förderprogrammen etwa halten die Forscher wenig: Davon würden in der Regel die Kommunen mit den besten Finanzstrategen im Rathaus profitieren. „Die Gemeinden brauchen nicht mehr Geld, aber mehr Autonomie, um es für den lokalen Bedarf richtig auszugeben.“ Zum Beispiel, um die Schule im Dorf zu lassen.