Berlin. Das Bundesverfassungsgericht hat über die Rechtmäßigkeit des beschleunigten Atomausstiegs entschieden. Die Fakten dazu im Überblick.

Fünf Jahre nach der Atomwende hat der beschleunigte Ausstieg für die Bundesregierung ein teures Nachspiel: Den Energiekonzernen steht für die vorzeitige Abschaltung von Atommeilern teilweise eine Entschädigung zu, entschied das Bundesverfassungsgericht am Dienstag. Die Fakten zum Urteil und zu den Folgen:

Wieso sollen die Konzerne Geld bekommen?

Die Betreiber Eon, RWE und Vattenfall hatten sich mit Verfassungsklagen gegen die politische Kehrtwende von 2011 wehren wollen: Die schwarz-gelbe Koalition hatte kurz nach dem Reaktorunglück im japanischen Fukushima beschlossen, dass spätestens 2022 der letzte Atommeiler vom Netz geht. Erst wenige Monate zuvor hatte die Regierung die Laufzeiten für Atomkraftwerke im Schnitt um zwölf Jahre verlängert. Der Kurswechsel 2011 sei im Wesentlichen mit dem Grundgesetz vereinbar, befanden die Richter. Prinzipiell ist das Gericht damit einverstanden, dass die Politik großen Einfluss auf die Atomkraftnutzung nimmt, weil sie eine wichtige „soziale“ Angelegenheit sei. Die spezielle Schlechterstellung und Entwertung des Eigentums ist laut Urteil allerdings verfassungswidrig. Es fehle die notwendige Ausgleichsregelung.

Wofür können die Atomkonzerne Entschädigung erwarten?

Zum einen sollen die Konzerne für Investitionen zwischen 2010 und März 2011 entschädigt werden. Die Regierung hatte im Oktober 2010 die Laufzeiten verlängert. Daraufhin hätten die Betreiber im guten Glauben investiert, erklärten die Richter. Im Juni 2011 wurde die Verlängerung dann wieder gestrichen.

Der andere Grund für eine Ausgleichszahlung: Durch das feste Ausstiegsdatum bis spätestens 2022 wurden RWE und Vattenfall deutlich schlechter gestellt als mit dem ursprünglichen Atomausstieg von 2002, den Rot-Grün mit den Unternehmen verhandelt hatte. Die damals vereinbarten Reststrommengen für die Meiler würden 2022 zum Teil ungenutzt verfallen – das sei „unzumutbar“ und „teilweise auch gleichheitswidrig“, urteilten die Richter.

Was kostet das den Staat?

Das ist unklar. Sicher ist nur, dass frühere Hoffnungen der Konzerne auf bis zu 20 Milliarden Euro Ausgleichszahlungen nicht erfüllt werden: „Wir gehen nicht davon aus, dass hier Entschädigungen in Milliardenhöhe erfolgen werden“, hieß es bei RWE. Ähnlich äußerten sich das Umwelt- und das Wirtschaftsministerium in Berlin. Die Entschädigung für zugesicherte Strommengen betrifft nach Regierungseinschätzung die Atomkraftwerke Mülheim-Kärlich von RWE sowie Krümmel von Vattenfall. Die Höhe einer Entschädigung müsste in gesonderten Verfahren von Gerichten festgelegt werden. Sie wäre anhand entgangener Gewinne und Betriebskosten höchst komplex zu berechnen. Experten gehen in ersten Schätzungen davon aus, dass RWE im günstigsten Fall 400 Millionen Euro entgangenen Gewinn einklagen könnte.

Eon behauptete am Dienstag, „hunderte Millionen Euro in einen längeren Betrieb der Kernkraftwerke investiert“ zu haben, im Glauben an die Laufzeitverlängerung. Die Anti-Atom-Organisation „Ausgestrahlt“ schätzte, dass die Betreiber insgesamt einen „dreistelligen Millionenbetrag erhalten.

Wer ist verantwortlich, wer zahlt?

Politisch ist die schwarz-gelbe Regierung unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU), die von 2009 bis 2013 im Amt war, verantwortlich. Der beschleunigte Ausstieg war eine Antwort auf die Atomkatastrophe von Fukushima im Frühjahr 2011 – und korrigierte zugleich den Ausstieg vom Atomausstieg, den Merkels Regierung erst wenige Monate zuvor mit einer Laufzeitverlängerung beschlossen hatte. Nicht nur die Opposition machte Merkel am Dienstag Vorwürfe, auch SPD-Vize Ralf Stegner erklärte: „Merkels Zick-Zack-Kurs wird die Steuerzahler Milliarden kosten.“

Eine Regierungshaftung gibt es aber nicht. Für einen etwaigen Schadensersatz müsste der Bund aufkommen, und gegebenenfalls die Länder. Doch zeigte sich die Regierung am Dienstag gelassen. Die Folgen seien „nicht so aufregend“, erklärte Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Die Bundesländer glauben, dass sie aus dem Schneider sind, auch wenn sie die sofortige Abschaltung der ältesten Meiler rechtlich umgesetzt haben und dafür auch verklagt wurden. Auf Anfrage verwies etwa die Landesregierung Schleswig-Holstein darauf, dass es bei dem Urteil um das Bundesgesetz gehe.

Gab es schon ähnliche Urteile?

Das Bundesverfassungsgericht urteilt häufig zu staatlichen Eingriffen in Eigentumsrechte und spricht dem Staat in der Regel eine starke, aber nicht übermäßige Macht zu. Ein Verfahren, in dem es potenziell um Milliarden geht und das so stark emotionalisiert, gab es allerdings noch nicht.

Wie geht es weiter?

Das Verfassungsgericht hat Regierung und Bundestag aufgefordert, bis Ende Juni 2018 eine Lösung zugunsten der Energieunternehmen zu finden. Die Richter ließen aber offen, ob am Ende tatsächlich eine Entschädigung gezahlt werden muss. Theoretisch könnte als Alternative auch eine Regelung gefunden werden, wie die betroffenen Konzerne die ihnen zustehenden Laufzeiten doch noch nutzen können. Die Unternehmen signalisierten bereits Gesprächsbereitschaft, die Beratungen mit der Regierung werden einige Zeit in Anspruch nehmen. Mit kurzfristigen Zahlungen rechnen daher auch die Unternehmen nicht.

Was sagen die Unternehmen und wie reagiert die Börse?

Die Konzerne begrüßen das Urteil natürlich. Das Gericht habe „die Bedeutung von Vertrauen bei Investitionsentscheidungen auf Basis politischer Beschlüsse“ gewürdigt, hieß es etwa von Eon. Für die beiden börsennotierten Energieriesen RWE und Eon war die Entscheidung ein deutlicher Schub – zunächst. Während der Deutsche Aktienindex Dax nur leicht im Plus lag, gewann Eon kräftig, RWE büßte den Zuwachs im Tagesverlauf wieder ein.

Wird Strom teurer oder billiger?

Nein, darauf hat das Urteil wohl keinen Einfluss. Bekommen die Konzerne eine hohe Entschädigung, werden sie deshalb bestimmt nicht ihre Tarife senken. Erhalten sie wenig oder gar nichts, ist das auch wirkungslos. Denn die Preise werden vom Wettbewerb bestimmt. Eine Ausnahme gibt es allerdings: Sollte sich die Politik dazu durchringen, statt einer Entschädigung doch die Laufzeiten einiger Atomkraftwerke zu verlängern, würde dadurch der Preis im Großhandel vorübergehend ein wenig sinken, weil das schon vorhandene Überangebot noch weiter steigt.