Berlin. Bundeskanzlerin Merkel spricht im Interview über den CDU-Parteitag in Essen, über eine „Welt im Umbruch“ – und über CSU-Chef Seehofer.
An Essen hat sie gute Erinnerungen. Hier ist Angela Merkel im Jahr 2000 erstmals zur CDU-Chefin gewählt worden. Hierher kommt sie häufiger, zuletzt hat sie den Dom besucht, eine wunderschöne Kirche, die sie daran erinnere, „dass Frauen, die ‚Stiftsdamen‘, jahrhundertelang in Essen das Sagen hatten“, erzählt Merkel, als wir sie zum Interview im Kanzleramt treffen. Sie hat ein Faible für Herrscherinnen. Am Dienstag steht wieder ein Parteitag in Essen an, kein unwichtiger, immerhin tritt die Kanzlerin 2017 wieder an.
Frau Bundeskanzlerin, kann der Ausgang des Referendums in Italien Europa zurückwerfen und den Nationalisten und Populisten Auftrieb geben?
Angela Merkel: Ich bedaure den Rücktritt von Matteo Renzi. Wir haben sehr gut zusammengearbeitet. Die demokratische Entscheidung der Italienerinnen und Italiener ist natürlich zu respektieren. Dessen ungeachtet werden wir unsere Arbeit für Wachstum und Beschäftigung sowie für innere und äußere Sicherheit in Europa fortsetzen.
Frau Bundeskanzlerin, worauf freuen Sie sich beim Parteitag am meisten und was wollen Sie erreichen?
Merkel: Ich freue mich auf die 1000 Delegierten, mit mir eigentlich 1001. Es ist ein Parteitag in einer für Deutschland und die Welt nicht einfachen Zeit, wenn ich an den grauenhaften Krieg in Syrien oder an die globalen Flüchtlingsbewegungen denke. Und doch kann die CDU auch selbstbewusst ins Wahljahr starten.
Sie haben gesagt, es werde „ein Wahlkampf, wie wir ihn noch nicht erlebt haben“. Was erwarten Sie konkret?
Merkel: Wir erleben eine Welt im Umbruch, manche sagen, eine Welt, die aus den Fugen geraten ist. In dieser Lage wird die CDU als Volkspartei der Mitte Anfechtungen von links erleben, von Rot-Rot-Grün, wie auch von ganz rechts, von der AfD. Für uns ist Essen auch der Auftakt für die drei Landtagswahlen, im März im Saarland, im Mai in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen.
Merkel über Martin Schulz: „Ich schätze ihn“
In einem Antrag zum Parteitag heißt es, „wenn wir erfreulicherweise alle immer älter werden und im Alter überwiegend immer jünger sind, dann müssen wir die gewonnene Lebenszeit in angemessenem Umfang auf zusätzliche Arbeit und zusätzlichen Ruhestand aufteilen.“ Im Klartext ist damit gemeint: Länger arbeiten?
Merkel: Wir halten die „Rente mit 67“, die bis zum Jahr 2030 endgültig eingeführt sein wird, für unverzichtbar. Zugleich denken wir auch über die Zeit nach 2030 weiter nach.
Wie?
Merkel: Das A und O der Rente ist die Frage der Beschäftigung. Wir können heute sagen, dass unsere Annahmen für die Rente positiv überholt wurden. Bislang sind wir von einem Rentenniveau von 46 Prozent im Jahr 2020 und 43 Prozent im Jahr 2030 ausgegangen. Wir sehen jetzt, dass das Rentenniveau wegen der guten Beschäftigungslage höher sein wird und dass wir die Beiträge noch auf Jahre stabiler halten können. Deshalb müssen wir alle Anstrengungen darauf richten, dass so viele Menschen wie möglich Arbeit haben.
Können Sie sich Martin Schulz als Außenminister vorstellen?
Merkel: Die Koalitionsvereinbarung sieht vor, dass die SPD das Auswärtige Amt besetzt und sie mir dazu einen Personalvorschlag macht. Den warte ich ab. Ich habe mit Martin Schulz als Präsidenten des Europäischen Parlaments immer sehr gut zusammengearbeitet. Wir kennen uns gut und ich schätze ihn.
Stellen Sie sich darauf ein, dass er der Herausforderer wird?
Merkel: Auch da halte ich mich an die alte Weisheit, mich nicht mit Dingen aufzuhalten, die ich nicht beeinflussen kann. Ich warte ab, was die SPD entscheidet, und nehme es, wie es kommt.
Das ist Bundeskanzlerin Angela Merkel
Im Wahlkampf „respektvoll miteinander streiten“
Der künftige US-Präsident Donald Trump sprach von den vergessenen Männern und Frauen, um die er sich kümmern werde. Auch Sie wollen „Modernisierungsverlierer“ zurückgewinnen. Ist es der gleiche Ansatz? Welche Lehren haben Sie aus der US-Wahl gezogen?
Merkel: Ich möchte nicht, dass der Wahlkampf in Deutschland in dem Ton geführt wird, der zum Teil im US-Wahlkampf geherrscht hat. Wir wollen respektvoll miteinander streiten; so werde ich es jedenfalls halten. Mein Ansatz ist es, Politik für alle Menschen zu machen. Der Zusammenhalt ist mir besonders wichtig, er ist Deutschlands große Stärke. Man sollte von den amerikanischen Verhältnissen nicht zu einfach auf Deutschland rückschließen. Schon die Sozialsysteme unterscheiden sich sehr voneinander.
Für uns sehe ich insbesondere die Herausforderung darin, die Lebensbedingungen in Stadt und Land vergleichbar zu gestalten. Wir sehen, dass wir die ländlichen Räume gegenüber den Städten stärken müssen. Es muss auch auf dem Land attraktive Arbeitsplätze, die notwendige Versorgung mit allem und Anbindung an das Verkehrsnetz, aber auch das digitale Netz geben, damit auch diese Regionen lebenswert und wettbewerbsfähig sind. Wir helfen daher den finanzschwachen Kommunen und legen Programme für den ländlichen Raum auf.
Haben Sie sich mal gefragt, ob Sie sich selbst ändern müssen? Eine andere Ansprache finden, emotionaler auftreten? Der Erfolg der AfD zeigt, dass Populisten nicht nur in den USA auf dem Vormarsch sind.
Merkel: Wir müssen jedem ein Angebot machen. Das ist der Anspruch der CDU als Volkspartei. Für mich ist jeder Bürger ein Teil des Volkes. Die Digitalisierung hat die Kommunikationsformen massiv verändert. Die sozialen Medien sind für viele eine wichtige oder sogar die wichtigste Informationsquelle. Wir Politiker müssen uns immer aufs Neue fragen, wie wir die Menschen erreichen. Ich persönlich mache mich mit meinen Fähigkeiten, so wie ich bin, an die Arbeit.
Menschen, die sich jedoch nie ändern, sind festgefahren. Ich denke da an Bertolt Brechts berühmte Geschichte von Herrn K., dem einer sagte, er habe sich gar nicht verändert. Und Brecht schreibt dazu: „Oh, sagte Herr K. und erbleichte.“ Das Leben heißt also immer auch Veränderung. Mein Grundansatz aber, wie ich an die Politik und die Menschen herangehe, der wird immer unverändert bleiben.
„Deutschland ist ein Land, das die Religionsfreiheit achtet“
Nach einer Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung glauben 40 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, Deutschland werde durch den Islam unterwandert. Wie wollen Sie auf diese Sorgen eingehen?
Merkel: Deutschland ist ein Land, das die Religionsfreiheit achtet. Das äußert sich in der staatlichen Neutralität und dem Respekt gegenüber allen Religionen. Wo wir islamistische, salafistische Tendenzen sehen, gehen wir dagegen vor. Ansonsten ist unser Zusammenleben durch das Grundgesetz mit seinen zentralen Werten geregelt, wie die Meinungs- und Religionsfreiheit, die Gleichberechtigung der Frau und anderes mehr.
Sind die stärkere Polarisierung in der Gesellschaft und das Erstarken der AfD die Folge Ihrer Flüchtlingspolitik?
Merkel: Natürlich hat die Ankunft so vieler Flüchtlinge die Gesellschaft polarisiert. Erst ging es um ihre Aufnahme, dann um die Frage, ob sie bleiben dürfen und sich integrieren werden. Ich sehe es als meine Aufgabe, möglichst viele Menschen, die sich nicht verstanden fühlen, zurückzugewinnen. Das kann dann gelingen, wenn wir die entstandenen Probleme gut lösen.
Machen Sie sich selbst Vorwürfe?
Merkel: Nein, denn in der historischen Situation war es richtig, Menschen, die vor Krieg und Verfolgung flohen, Zuflucht zu geben. Wir und alle Welt haben uns jedoch vorher zu spät um die Situation in den Flüchtlingslagern im Libanon und in Jordanien gekümmert. Richtig dagegen war es, gleich im Spätsommer des vergangenen Jahres zu beginnen, ordnend und steuernd einzugreifen und an der EU-Türkei-Vereinbarung zu arbeiten, die wir dann ja auch bald umsetzen konnten. Sie hat die illegale Migration über die Ägäis deutlich reduziert, sie entzieht den kriminellen Schleppern die Geschäftsgrundlage und beendete damit auch den unerträglichen Zustand, dass beinahe täglich zwischen der Türkei und Griechenland Menschen ertranken.
Mit derselben Türkei, die damit droht, die Flüchtlinge wieder ungehindert nach Westeuropa passieren zu lassen. Halten Sie das für eine leere Drohung?
Merkel: Die EU erfüllt ihre Verpflichtungen aus der EU-Türkei-Vereinbarung. Gleiches erwarten wir auch von der Türkei. Diese Zusammenarbeit ist im beiderseitigen Interesse. Niemand kann wollen, dass wieder jeden Monat Hunderte Menschen in der Ägäis ertrinken und mafiöse Schleuserbanden daran viel Geld verdienen.
Haben Sie sich zu sehr vom türkischen Präsidenten Erdogan abhängig gemacht?
Merkel: Nein. Wir haben eine europäisch-türkische Zusammenarbeit, die für beide Seiten gleichermaßen sinnvoll ist.
Wird die Bundestagswahl zum Plebiszit über ihre Flüchtlingspolitik?
Merkel: Sie wird, wie jede Wahl, eine Entscheidung darüber sein, wem die Bürger zutrauen, die Probleme zu lösen und das Land auf gutem Weg zu halten. Da geht es um die persönlichen Lebenswünsche der Menschen genauso wie um Fragen von Frieden und Sicherheit. Ich habe im Zuge der Regionalkonferenzen der CDU den Eindruck gewonnen, dass sich die Menschen sowohl mit der Flüchtlingspolitik als auch mit vielen anderen Themen beschäftigen.
Wie viele Narben hat der gut einjährige Streit mit der CSU hinterlassen?
Merkel: CDU und CSU haben in einem Punkt, der ohne Zweifel nicht unwichtig ist, eine unterschiedliche Auffassung. Damit sollten wir leben können. CDU und CSU haben aber zugleich in so vielen anderen Punkten, auch beim Thema Zuwanderung, gemeinsame Auffassungen. Viel schwerer als die Unterschiede wiegt das breite Fundament unserer gemeinsamen Überzeugungen. Das trägt, und auf dem werden wir ein gemeinsames Wahlprogramm erarbeiten.
Können Sie sich auf Horst Seehofer verlassen?
Merkel: Was wir besprechen, das wird eingehalten.
Eine vierte Kanzlerkandidatur „ist nicht trivial“
Sie haben kürzlich Ihre erneute Kandidatur angekündigt. Verraten Sie uns, wann Sie sich tatsächlich dazu entschieden haben?
Merkel: Ich habe sehr viel darüber nachgedacht, weil eine vierte Kandidatur nicht trivial ist. Es geht um eine Entscheidung für vier Jahre.
Was gab letztlich den Ausschlag?
Merkel: Mich haben viele ermutigt, die mir sagten: „Du musst das machen in einer schwierigen Situation, du bist ein Faktor der Stabilität“. All denen habe ich gesagt, dass mich das ehrt, dass ich alleine aber gar nichts schaffen kann, dass ich die Unterstützung sehr vieler Menschen in meiner Partei und darüber hinaus brauche.
Haben Sie mit Ihrem Mann besprochen, was er davon hält?
Merkel: Ich spreche über meine privaten Gespräche im Allgemeinen nicht öffentlich, dabei belasse ich es auch hier.
Ihnen war es immer wichtig, den richtigen Zeitpunkt für den Ausstieg aus der Politik zu finden. Ihre Amtsvorgänger sind meist abgewählt oder von ihrer Partei abgeschüttelt worden. Gibt es in Ihrem Amt überhaupt einen selbstbestimmten Abgang?
Merkel: Das wird sich zeigen. Es geht um die Abwägung zwischen Selbstbestimmung und Verantwortung für andere. Es geht ja nicht in erster Linie und schon gar nicht allein um mich, sondern um die Zukunft unseres Landes wie auch die der Partei, die mir viel gegeben hat. Ich weiß, dass ich unserem Land und meiner Partei davon noch etwas zurückgeben kann und möchte.