Berlin. Der Wechsel von EU-Parlamentspräsident Martin Schulz nach Berlin erhöht in der SPD den Entscheidungsdruck. Wer ist der beste Kandidat?

Zum Abschied wurde Martin Schulz noch einmal pathetisch: Das europäische Einigungswerk sei die „größte zivilisatorische Errungenschaft“ der vergangenen Jahrhunderte, erklärte der EU-Parlamentspräsident am Donnerstagvormittag in Brüssel gleich in drei Sprachen. Aber er werde für eine starke EU nun nicht mehr in Brüssel kämpfen, sondern „von der nationalen Ebene aus“.

Da hatte sich die Nachricht allerdings in Berlin und Brüssel schon verbreitet: Nach 22 Jahren als Europaabgeordneter, zuletzt mehrere Jahre als Präsident des EU-Parlaments, wechselt der 60-Jährige in die Bundespolitik. Am Abend zuvor hatte Schulz bereits die Spitze der nordrhein-westfälischen SPD informiert: Als NRW-Spitzenkandidat will er 2017 zur Bundestagswahl antreten, Landeschefin Hannelore Kraft und die vier SPD-Bezirksvorsitzenden schlugen ihn am Donnerstag offiziell dafür vor.

Umfrage: Schulz aussichtsreicher Kandidat

Auf die Berliner Bühne wechselt Schulz allerdings wohl schon sehr viel früher: In der SPD-Führung wird kein Zweifel daran gelassen, dass Schulz Nachfolger von Außenminister Frank-Walter Steinmeier wird, sobald der am 12. Februar zum nächsten Bundespräsidenten gewählt wird. Schulz wollte sich dazu allerdings am Donnerstag nicht äußern. Und erst recht nicht zur Frage, ob er jetzt auch SPD-Kanzlerkandidat wird.

Der öffentlichen Debatte über die Kandidatur kann Schulz jetzt allerdings kaum noch ausweichen, die SPD-Spitze auch nicht: Denn eine Umfrage im Auftrag dieser Redaktion zeigt, dass die Deutschen Schulz für einen aussichtsreicheren sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten halten als SPD-Chef Sigmar Gabriel. Nach der Erhebung von TNS Emnid glauben 42 Prozent der Befragten, Schulz habe die besseren Chancen gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), während sich 35 Prozent für Gabriel aussprechen. 23 Prozent wollten sich nicht festlegen (siehe Grafik).

Ersten Zugriff auf Kandidatur hat Gabriel

Unter den Anhängern der SPD ist der Vorsprung für den bisherigen Europapolitiker noch größer: 54 Prozent halten Schulz für chancenreicher, 41 Prozent Gabriel. Bei Linken und Grünen fällt das Ergebnis noch deutlicher aus. Einzig bei der AfD liegt Gabriel vor Schulz.

Dass Schulz sich die Kandidatur zutraut, hat er bereits deutlich signalisiert: Seit Monaten besucht er republikweit kleine und größere SPD-Versammlungen, um sich den Genossen als Merkel-Herausforderer zu empfehlen. Doch den ersten Zugriff auf die Kandidatur hat SPD-Chef Gabriel. Schulz käme nach Lage der Dinge nur zum Zug, wenn Gabriel verzichtet.

Gabriel hat klare Rückendeckung

Die beiden verbindet eine lange Freundschaft, sie führen derzeit viele, oft stundenlange Gespräche – doch bislang wartet Schulz vergeblich auf ein Signal. Gabriel scheint entschlossen, selbst in den Ring zu steigen, seit Monaten bereitet er den Wahlkampf vor. Nur so, glauben SPD-Strategen, kann er auch den SPD-Vorsitz behalten. Wenn Gabriel kandidieren wolle, dann werde ihm das niemand streitig machen, sagen führende Genossen. Er hat inzwischen auch die klare Rückendeckung wichtiger SPD-Granden und mächtiger Landesverbände – so hat NRW-Landeschefin Kraft bereits Unterstützung signalisiert.

Gabriel will sich aber Zeit lassen: Auf sein Betreiben hat die Parteiführung beschlossen, dass der Kanzlerkandidat erst Ende Januar ausgerufen wird. Am Fahrplan werde sich auch nichts ändern, versicherte SPD-Generalsekretärin Katarina Barley am Donnerstag. Doch die Debatte ist nicht zu stoppen: Wer ist der bessere Kanzlerkandidat? Was spricht für Gabriel, was für Schulz?

• Beliebtheit: Schulz liegt in Umfragen seit einigen Monaten vor Gabriel – obwohl er hierzulande nicht so präsent ist wie der Vizekanzler, würden die Bürger eher ihn als Gabriel zum Kanzler wählen. Schulz sei ein unbeschriebenes Blatt, aus innenpolitischen Konflikten habe er sich herausgehalten, sagen Wahlforscher. Im Vergleich zu den Zustimmungswerten der Kanzlerin liegen aber Gabriel wie Schulz weit zurück.

• Erfahrung: Gabriel wie Schulz sind seit fast drei Jahrzehnten in der Politik, der SPD-Chef hat aber die umfassendere Erfahrung: Der studierte Gymnasiallehrer war drei Jahre Ministerpräsident in Niedersachsen und bislang sieben Jahre Bundesminister, seit 2013 ist er auch Vizekanzler. Gabriel ist international gut vernetzt, gilt als strategisch erfahren. Der gelernte Buchhändler Schulz wäre dagegen der erste Kanzlerkandidat seit vielen Jahrzehnten, der keine Regierungserfahrung hat: Er war 9 Jahre Bürgermeister der 40.000-Einwohner-Stadt Würselen bei Aachen, seit 1994 ist er Europaabgeordneter, seit 2012 Präsident des EU-Parlaments. Schulz spricht fünf Sprachen, ist versiert auf internationaler Bühne.

• Biografie: Beide haben sich über die Politik von weit unten nach ganz oben gearbeitet. Gabriel hatte mit schwierigen Familienverhältnissen zu kämpfen, Schulz geriet in Jugendzeiten zeitweise auf die schiefe Bahn und ist seitdem trockener Alkoholiker. Ihren Aufstieg verdanken beide der SPD. Schulz und Ga­briel sind verheiratete Familienväter.

• Wahlkampf: Sieger-Erfahrung haben beide nicht. Gabriel wurde als Ministerpräsident in Niedersachsen 2003 mit einer Erdrutsch-Niederlage abgewählt. Schulz unterlag 2014 als Spitzenkandidat bei der Europawahl trotz guter Ausgangsbedingungen dem konservativen Konkurrenten Juncker. Dennoch gelten beide als engagierte Wahlkämpfer. Vor allem bei Gabriel fürchten auch Gegner seinen politischen Instinkt.

• Positionen: Gabriel und Schulz werden von Genossen als Pragmatiker auf Mitte-Kurs beschrieben. Schulz ist allerdings deutlicher dem rechten Parteiflügel zuzurechnen, ohne dass klar wäre, welche Positionen er innenpolitisch vertritt. Eine rot-rot-grüne Koalition würde unter seiner Führung wohl schwieriger als unter Gabriel. Der ist taktisch beweglicher, Kritiker halten ihn deshalb für wankelmütig.

• Stil: Beide sind leidenschaftliche Politiker: Machtbewusst, ehrgeizig, schlagfertig, emotional, angriffslustig – und dabei manchmal auch zu hitzig. Als Redner ist Gabriel an guten Tagen noch etwas besser als Schulz.

• Partei: Wer im Fall der Fälle den größeren Rückhalt in der SPD hätte, ist unklar. Gabriel und Schulz gehören seit vier Jahrzehnten der Partei an, sie ist ihnen mehr als politische Heimat. Gabriel führt die SPD seit 2009 und hat sie in Krisenzeiten zusammengehalten. Schulz ist aber länger – schon seit 1999 – Mitglied der engsten SPD-Führung. In innerparteilichen Konflikten hat er sich nie profiliert, auf Parteitagen wird er für seine Europareden gefeiert und mit guten Wahlergebnissen belohnt. Gabriel ist als Parteichef respektiert, wurde zuletzt aber nur mit 74 Prozent im Amt bestätigt. Der Vorsitzende hat keine Hausmacht, sein mitunter ruppiger Stil und nicht abgesprochene Kursänderungen haben Anhänger verprellt. Dennoch würde sich in der SPD wohl niemand in den Weg stellen, wenn Gabriel seine Kanzlerkandidatur ankündigen sollte.

Und nun? Der Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises der SPD, Johannes Kahrs, spricht aus, was viele in der Partei erwarten: Gabriel sollte Merkel herausfordern, Schulz wird Außenminister. „Ich würde mich freuen, wenn Gabriel Kanzlerkandidat wird“, sagte Kahrs dieser Redaktion. „Er hat die Qualitäten, um die SPD bei der Bundestagswahl auf deutlich über 30 Prozent zu bringen. Gabriel ist ein hervorragender Wahlkämpfer und er wird ein guter Bundeskanzler.“ Schulz aber sei mit seiner Erfahrung Favorit für das Außenministerium, das Amt könne er sofort ausfüllen.