Berlin/Dresden. In Dresden feiert Deutschland die Einheit. Politiker dort ignorierten Rechtsextremismus lange, beklagt Familienministerin Schwesig.

Bundesratspräsi­dent Stanislaw Tillich (CDU) hat angesichts einer wachsenden Polarisierung der Gesellschaft Anstrengungen zur Vollendung der inneren Einheit Deutschlands angemahnt. Dass die Menschen in Ost und West über 40 Jahre in unterschiedlichen Systemen gelebt hätten, sei heute so stark zu spüren wie seit 1990 nicht mehr, sagte der sächsische Ministerpräsident am Sonnabend in Dresden bei der Eröffnung des Bürgerfestes zum Tag der deutschen Einheit.

Das Fest findet unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen statt, nachdem es vor wenigen Tagen Sprengstoffanschläge auf eine Moschee und ein Kongresszentrum gegeben hatte. Immer wieder war Sachsen zuvor wegen rechtsradikaler und fremdenfeindlicher Vorfälle in den Blickpunkt geraten.

„Rechtsextremismus in Sachsen ignoriert worden“

Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) hat Tillich für das Erstarken des Rechtsextremismus in Sachsen mitverantwortlich gemacht. „In Sachsen ist das Problem des Rechtsex­tremismus viele Jahre lang von Ministerpräsident Tillich und seiner CDU ignoriert worden“, sagte Schwesig unserer Redaktion.

Viele, die den Rechten etwas entgegensetzen wollten, hätten sich allein gelassen gefühlt. „Wenn die Politik rechte Strömungen aber über Jahre laufen lässt, riskiert sie, dass sich die Bürger am Ende zurückziehen“, kritisierte die stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende. „Das darf nicht geschehen.“

Rechtsextremismus an einigen Orten im Osten „verwurzelt“

Schwesig hieß es gut, dass die Einheitsfeier in diesem Jahr in der sächsischen Landeshauptstadt stattfinde. „Dresden braucht in diesem Jahr die Einheitsfeier besonders“, sagte sie. Die vielen Bürger, die in Sachsen nicht Pegida hinterherliefen, die Anschläge und Ausschreitungen verurteilten und die sich für die Zivilgesellschaft engagierten, bekämen im Alltag zu wenig Aufmerksamkeit. „Diese Menschen zeigen, dass es auch das andere Sachsen gibt, und dass es sehr viel positives Engagement gibt“, betonte die Ministerin. Die Politik müsse die Bürger stärken, die den Mut hätten, aufzustehen und sich dagegen wehrten, dass Flüchtlingsunterkünfte angezündet und Ausländer gejagt werden.

Rechtsextremismus sei ein Problem von ganz Deutschland, sagte Schwesig. Im Osten sei er allerdings „an einigen Orten mittlerweile verwurzelt“. Als einen Grund nannte sie, dass Jugendliche, die wenig Perspektiven und keinen Halt hätten, sehr empfänglich für Rechtsextreme seien.

Merkel sieht in Sachsen Erfolgsgeschichte

Schwesig rief dazu auf, die Extremismusprävention zu verbessern. Die Bundesregierung hatte die Mittel für ihr Präventionsprogramm vor Kurzem auf 100 Millionen Euro erhöht. Projekte können jedoch immer nur zeitlich befristet finanziert werden. Schwesig fordert, die Mittel per Gesetz zu verstetigen. „Demokratieförderung muss eine dauerhafte Aufgabe werden“, sagte sie. Das Gesetz dazu sei fertig und liege im Kanzleramt. „Ich hoffe sehr, dass die Union dieses Gesetz unterstützt. Das wäre ein wichtiges Signal.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat zum Jahrestag vor Geschichtsvergessenheit gewarnt. Man müsse dagegen auftreten, wenn Menschen mit rechtem Hintergrund „Wir sind das Volk“ riefen, sagte Merkel in einer Videobotschaft. Dieser Ruf sei während der friedlichen Revolution in der DDR „ein sehr emanzipatorischer“ gewesen. Heute seien es aber auch Menschen, die glaubten, zu kurz gekommen zu sein, die mit diesem Ruf auf die Straße gingen.

Schorlemmer beklagt gegenseitige Vorurteile

Merkel lobte in diesem Zusammenhang vor allem das Vorgehen von Regierung und Gesellschaft in Sachsen. Sie hätten sehr gut reagiert, indem sie gesagt hätten: „Wer glaubt, dass er Probleme hat, die durch die Gesellschaft oder durch die Politik nicht wahrgenommen werden, der soll sich äußern, konstruktive Lösungsvorschläge machen“, sagte die Kanzlerin. „Das ist gelebte Demokratie.“ Merkel betonte, Sachsen sei „in vielen Teilen eine wirkliche Erfolgsgeschichte der deutschen Einigung“. 26 Jahre nach der Wiedervereinigung lasse sich sagen, „dass wir viel geschafft haben, dass vieles entstanden ist“.

Für den DDR-Bürgerrechtler und Friedenspreisträger Friedrich Schorlemmer sind die Deutschen noch lange nicht eins. „Wir haben gegenseitig noch immer viele Vorurteile. Ich glaube, dass es unterschätzt wurde, dass es ein längerer Weg sein würde“, sagte er.

So sei die Langzeitwirkung von Entmündigung, Demütigung und Bevormundung der Ostbürger völlig unterschätzt worden. Diese sei durch „40 Jahre Besatzermacht in der DDR“ und die „westdeutschen Erklärer“, die nach 1990 „uns Ostdeutschen erklären wollten, wie wir gelebt haben und nun zu leben hätten“, geblieben. Rechtsnationales Gedankengut mache sich in Deutschland und Europa erschreckend breit. Anschläge auf Asylunterkünfte und Moscheen, Übergriffe auf Menschen, selbst auf Kinder, seien verheerende Beispiele dafür. „Dagegen muss man rechtzeitig ganz klare Grenzen setzen“, sagte er. „Und wenn Leute bei Übergriffen auf Ausländer auch noch brüllen „Wir sind das Volk“, dann wird mir ganz schlecht“, sagte Schorlemmer. Dieser Satz stehe für die friedliche Revolution gegen das SED-Regime, für Freiheit und Toleranz. (mit dpa)