Lesbos. Europa bekommt die Flüchtlingskrise nicht unter Kontrolle. Dramatisch zeigt sich das im „Hotspot“ auf der griechischen Insel Lesbos.

Abraham steigt durch das Loch im Maschendrahtzaun in die Freiheit, die an diesem Morgen nicht mehr ist als eine Steckdose an einem Plastiktisch und ein Becher Tee. Mit dem Strom lädt er sein Handy auf, mit dem Tee den Akku im Körper. Abraham hat kaum geschlafen.

Er nennt das Lager hinter dem Zaun nur „Gefängnis“. 4000 Menschen harren dort aus, eher mehr als weniger. Platz ist eigentlich für 3000. Syrer, Afghanen, Algerier, Iraner, Kongolesen, Pakistaner leben in Zelten und Containern. Die EU nennt das Lager „Hotspot“, weil hinter dem Zaun auch Container stehen, in dem sich Menschen wie Abraham registrieren lassen sollen, nachdem sie ihr Leben in einem überfüllten Schlauchboot riskiert und nach der Fahrt von der Türkei aus europäischen Boden betreten haben. Wenn es gut für sie läuft, bekommen sie Asyl. Für Abraham läuft es schlecht.

Flüchtlinge warten monatelang

Das Flüchtlingslager „Moria“ auf Lesbos vor dem Feuer.
Das Flüchtlingslager „Moria“ auf Lesbos vor dem Feuer. © dpa | Orestis Panagiotou

Er kommt aus Eritrea, seit fünf Monaten wartet er auf der griechischen Insel Lesbos. Er hatte noch keine Anhörung bei den Beamten, kein Verfahren, kein Asyl, keine Abschiebung. Abraham sagt: „Sie behandeln uns wie Tiere.“ Ein Leben zwischen Warten und Wut.

Am Haupttor wacht ein Polizist, die meisten Geflüchteten können rein und raus. Vor dem Zaun stehen Imbissbuden mit Plastikmöbeln unter Planen. Abraham und seine Freunde haben einen Hintereingang in das „Gefängnis“ geschnitten – das Loch im Zaun, getarnt mit Decken. Der schnellere Weg zum Tee.

Zusammengekauert im Sand geschlafen

Anfang dieser Woche war das Loch auch der schnellere Weg aus der Angst. Flammen schossen in Richtung Nachthimmel. Zelte brannten, Decken, Asylanträge. Abraham filmte mit seinem Handy. Menschen flohen auf die umliegenden Hügel, einige transportierte die Polizei in andere Lager. Abraham schlief in dieser Nacht zusammengekauert auf Sand unter Olivenbäumen.

An Deutschlands Grenze ist es still geworden. Auf Lesbos brannte an diesem Abend die Luft. Zwei Orte in einem Europa.

Nicht zum ersten Mal bricht Feuer aus

Menschen flüchten am Montag, 19. September, vor den Flammen im Flüchtlingeslager Moria.
Menschen flüchten am Montag, 19. September, vor den Flammen im Flüchtlingeslager Moria. © dpa | Stratis Balaskas

Abraham sagt, es habe eine Demonstration gegeben. Gerüchte kursierten über Abschiebungen in die Türkei. „Ich bin nervös geworden, als sich Syrer, Afghanen und Afrikaner Seite an Seite postierten“, sagt eine Helferin. Sonst würden sie sich eher angiften. Sogar einen Hungerstreik riefen sie aus. „Das ging gut, bis ein paar Leute den friedlichen Protest gebrochen haben“, berichtet ein Afghane. Erst flogen Steine, dann brannten Mülltonnen. Später Dutzende Zelte. Erst machten Polizisten wenig, dann schossen sie Tränengas.

Nicht zum ersten Mal bricht Feuer in dem Lager aus. Nicht zum ersten Mal gehen Männer aufeinander los. Und niemanden hier überrascht das. „Es fehlt an Sicherheit in diesem wie in vielen anderen Lagern. Wir haben immer gefordert, die Sicherheit zu erhöhen. Und es fehlt an Angaben für die Flüchtlinge, wann sie wie Asyl beantragen können und wie die Fristen sind“, sagt Roland Schönbauer vom UN-Flüchtlingshilfswerk. „Es ist ihre Form des Protests“, sagt der Sprecher des Bürgermeisters von Mytilene, der Hauptstadt von Lesbos. Er schiebt seiner Nüchternheit ein Achselzucken hinterher.

Türkei-Abkommen sollte Probleme lösen

2015 begann Europas große Flüchtlingskrise mit Bildern von sinkenden Booten. Im März sollte ein Abkommen zwischen EU und Türkei für Ordnung sorgen. Jeder, der irregulär nach Griechenland reist und kein Recht auf Asyl hat, soll abgeschoben werden. Dafür nimmt die EU Syrer aus der Türkei auf. Europa will Asylverfahren beschleunigen und Flüchtlinge gerecht verteilen. Das ist die Theorie.

Von der Praxis erzählt Suhail, ein Mann aus Pakistan, Mitte 40 und Arzt, als er durch das Loch im Zaun in das Camp steigt und vorbeigeht an den Zelten im Sand, hin zu den Toiletten. Von den Plumpsklos sind manche bis zum Rand voll. „Jeden Tag gibt es Makkaroni oder Reis.“ Viele schlafen auf dünnen Decken, vor dem Registrierungszentrum diskutieren Flüchtlinge mit Beamten, sie trennt ein meterhoher Zaun. Aus Lautsprechern knarzen Durchsagen auf Englisch, an manchen Stellen riecht die Erde noch verkohlt vom Brand.

Schlechte hygienische Bedingungen in der Unterkunft

Es gibt 100 Duschen, aber Suhail erzählt, dass meist nur zwei Stunden am Morgen das Wasser laufe. Dann sagt er, dass das alles zu ertragen wäre, gäbe es nicht diese Ungewissheit. Darüber, wann man einen Termin bei den Beamten bekommt. Darüber, wer bleiben darf in Europa. Und wo diese Flucht endet. Auch Suhail lebt schon sechs Monate im Zelt auf Lesbos.

Seitdem die Balkanroute geschlossen ist und der Pakt mit der Türkei gilt, kommen weniger Menschen per Schlauchboot nach Griechenland. Zwischen 50 und 100 am Tag – vor einem Jahr waren es 5000. Für die EU ist das ein Erfolg. Für Lesbos nicht. Der „Hotspot“ ist überfüllt, denn die Griechen schicken die Flüchtlinge nicht mehr einfach weiter auf das Festland. Registrierung, Fingerabdrücke, Anhörung, Asylverfahren – das alles soll sich jetzt hier entscheiden.

Die Zahl der Registrierungen steigt

Doch auch auf Lesbos gibt es Hoffnung. Die Zahl der Registrierungen steigt. Und Efi Latsoudi ist so etwas wie das Endorphin dieser Insel. Seit Jahren hilft die Frau in einem Camp an der Südspitze geflüchteten Familien, Kindern und Kranken. Sie schlafen in Hütten oder geräumigen Zelten, Kinder schaukeln auf dem Spielplatz, Frauen pflanzen Kartoffeln an.

Doch auch hier stoßen die Kapazitäten an Grenzen. Latsoudi will ausbauen, aber sie würde keine Genehmigung bekommen. Zudem fehlen Anwälte und Psychologen. „Profis“, sagt sie. Junge Menschen aus aller Welt pilgerten zu ihr, halfen ein paar Wochen, spielten mit den Kindern und verschwanden wieder. Latsoudi schätzt das, aber sie sagt auch: „Du kannst die Welt nicht in 15 Tagen retten.“

Schutzsuchende treffen auf einen schwachen Staat

Europas Flüchtlingskrise ist ein Hindernislauf. Viele Läufer sind auf der Strecke, aber kaum einer hat trainiert, keiner will das Feld anführen. Niemand weiß, wie viele Runden zu laufen sind. Und manchmal laufen alle sogar in unterschiedliche Richtungen. Wenige geben auf. Seit März sind 46 Syrer freiwillig zurückgegangen in die Türkei. Die meisten legen gegen eine Abschiebung vor Gericht Widerspruch ein. Jeder hat das Recht dazu, und Anwälte helfen ihnen ehrenamtlich dabei. Zumal griechische Richter oft daran zweifeln, dass die Türkei ein sicheres Land ist.

Die EASO, die Europäische Asylagentur, hilft den Beamten vor Ort. Gemeinsam mit dem UNHCR registrierten sie im Sommer 28.000 Flüchtlinge, eine Art Vorsortierung, damit die Griechen schneller arbeiten können. 700 EU-Beamte sind hier stationiert – doch das sei nur ein Teil der versprochenen Hilfe, klagt die Regierung in Athen.

Warten ist für viele Flüchtlinge das deprimierendste

Auf Lesbos sind es nur 30, von denen die meisten nach ein paar Wochen oder Monaten in ihr EU-Land zurückkehren. Neue Mitarbeiter kommen, müssen eingearbeitet werden. Das kostet Zeit. Und die Entscheidung über ein Asylgesuch fällen am Ende ohnehin die Griechen. Dort sind die Ressourcen knapp – auch aufgrund der EU-Auflagen in der Schuldenkrise. Die Schutzsuchenden treffen als Erstes auf Europas schwächsten Staat.

Und auf ein geschwächtes Europa – ins Wanken gekommen durch den Brexit, gestützt auf ein umstrittenes Abkommen mit der Türkei, zerstritten in der Asylpolitik. Von den 160.000 Menschen, die aus Griechenland in der EU verteilt werden sollen, sind 5000 umgezogen. Auch Deutschland hinkt bei der Aufnahme hinterher. Das alles trifft auch Menschen wie Abraham und Suhail.

EU hat vage Vorstellung zur Verteilung

Manche fragen die Beamten im Camp fast jeden Tag: „Wann bekomme ich meine Asylanhörung?“ Die Antwort sei fast immer dieselbe: „Warten Sie!“ Und viele, wie der Pakistaner Suhail, wollen gar keinen griechischen Stempel in seinem Pass, sondern ans Festland und dann weiter Richtung Westen, am liebsten nach Portugal. Dort würden die Krankenhäuser ähnlich arbeiten wie in seiner Heimat. Die EU hat eine vage Vorstellung, wie sie die Menschen auf dem Kontinent verteilen will.

Einige Anwohner von Lesbos protestierten Seite an Seite mit Rechtsextremisten gegen die Geflüchteten. Einzelne klagen darüber, dass diese aus den Supermärkten Essen stehlen würden. Im Hafen lungern ein paar Algerier an parkenden Autos. Eine Fähre hat angelegt, Touristen steigen aus und ein. Die Männer beobachten die Kontrollen, schauen nach Lücken. Auch sie wollen irgendwie auf ein Schiff Richtung Athen.

Polizisten sichern den „Hotspot“

Den Antrag auf Asyl kalkulieren sie in ihren Plänen gar nicht mehr ein. Als sie sich dem Metallzaun vor dem Verladeplatz nähern, kommen Polizisten: „Go back! Go back!“, rufen sie. Vergangene Woche sollen acht Menschen gestorben sein, als sie sich in einem leeren Tanklaster versteckt haben. Es sind Gerüchte, die sich Flüchtlinge im Lager erzählen. Bestätigt wird nur die Ungewissheit.

Suhail sitzt vor der Imbissbude. Pakistan sei ein gutes Land, er hatte gute Arbeit, Frau und Kind. Eines Tages aber behandelte er in der Klinik die falschen Patienten. Der Geheimdienst besuchte ihn, erzählt Suhail. Er habe Terroristen geholfen, stecke mit ihnen unter einer Decke. Nach vier Besuchen in einem Monat entschied er sich zur Flucht.

Geld gegen heimliche Fahrt nach Athen

Jetzt arbeitet Suhail für den Imbissbesitzer am Camp, kellnert, übersetzt für zehn Euro am Tag. Suhail zückt einen Zettel. „Molyvos“ hat er sich notiert, ein Dorf im Norden der Insel. Von dort starten Fischer auf ihren Kuttern morgens ihre Touren. Suhail will den Fischern ein Angebot machen: Geld gegen eine heimliche Fahrt nach Athen. Ans Festland. „Das ist meine letzte Option.“