Berlin. Die Bundesliga beginnt wieder, Züge füllen sich mit Fans. Die Gewalt geht zurück – das Bundesinnenministerium rechnet dabei falsch.

Als die 42 Polizisten im Mai aus dem Regionalzug von Rostock nach Berlin ausstiegen, dachten sie noch, die Auswärtsfahrt der Union-Fans sei optimal verlaufen. Wenig später machte dann Schlagzeilen, was die Bundespolizei nach der Ankunft des Zugs dokumentiert hatte: Der Regionalexpress 5 war verwüstet worden, von 30.000 Euro Schaden sprach die Bahn. Die Bilder bestätigten alle Vorurteile über Fußballfans, der Fahrgastverband Pro Bahn sprach im Jahr 2013 gar von „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“. Bahnreisende machen oft unschöne Erfahrungen mit Fußballfans.

Doch in den zurückliegenden drei Spielzeiten ist nicht nur die Zahl der Gewalttaten und der Tatverdächtigen zurückgegangen. Es sind auch weniger Menschen verletzt worden, wenn es in Zügen und Bahnhöfen mit Fans Ärger gab. Das hat eine Addition unserer Redaktion ergeben. 291 Verletzte führt eine Statistik der Bundespolizei demnach für die vergangene Saison auf – Unbeteiligte, Polizisten und Störer zusammengenommen. Dem stehen geschätzt 3,4 Millionen bahnreisende Fußballfans pro Saison gegenüber.

42 Prozent weniger verletzte Polizisten

Die vorliegende Antwort der Bundesregierung (PDF) listet Einzelzahlen auf, stellt den Trend aber umgekehrt dar: „Im gleichen Zeitraum stieg jedoch die Anzahl der verletzten Personen an.“ Eine Nachfrage konnte das Ministerium am Freitag noch nicht beantworten. Es liegt nahe, dass zunächst die Fragesteller von den Grünen über die nötige Korrektur informiert werden. Besonders deutlich um 42 Prozent zurückgegangen ist die Zahl der verletzten Polizisten, aber auch die Zahl verletzter Unbeteiligter ist gesunken.

Die Deutsche Bahn berichtet zwar konstant von 1,5 Millionen Euro Vandalismusschäden pro Fußballsaison. Sie meldete dem Ministerium aber ebenfalls eine rückläufige Entwicklung der Gewaltdelikte gegen ihr Personal im Zusammenhang mit Fußballspielen. Sie hat nicht einmal Erkenntnisse, dass es an Spieltagen der ersten Ligen mehr Übergriffe gibt als an spielfreien Tagen.

Gewerkschaft fordert entschiedeneres Vorgehen

In der Antwort der Bundesregierung schließt sich an den falsch gemeldeten Anstieg der Verletztenzahlen dennoch die Feststellung an: „Das Gewaltpotential im Fußballfanreiseverkehr ist damit weiterhin hoch.“ Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) forderte in einer Stellungnahme zur Antwort der Bundesregierung, „noch entschiedener gegen Fußballgewalttäter vorzugehen“. Die Gewerkschaft zeichnet ein Bild von Randalen als Massenphänomen: Heute ziehe sich die „Gewalt im Fußball von der ersten bis zur fünften Fußballliga durch und hat nahezu jeden Verein erfasst“.

182 sogenannte Fankundige Beamte deutschlandweit bei der Bundespolizei in der vergangenen Saison sollten der Gewerkschaft sagen können, dass das Problem sich nicht verschlimmert hat. Sie ergänzen die Arbeit der Szenekundigen Beamten bei den Landespolizeibehörden, die ebenfalls tiefe Einblicke in die Fanszenen nehmen.

Fanvertreter wundert aber die Darstellung der Gewerkschaft und des Ministeriums nicht. „Neue Forderungen und Überspitzungen der Gefahrenlage beim Fußball kennen wir, zumal bei Beginn der Saison“, sagt der Münchner Strafrechtler Marco Noli, eines der Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Fananwälte. Er äußert Mitgefühl und Bedauern für jeden Bahnreisenden, der nach einer Gewalterfahrung samstags nicht in einen Zug steigen wolle. Wenn der Grund dafür aber in einer lediglich gefühlten Unsicherheit liege, dann belege das, „wie unverantwortlich Polizeigewerkschaft und Innenpolitiker mit dem Thema umgehen“.

Der Berliner Sig Zelt, Sprecher des bundesweiten Fanbündnisses „ProFans“, glaubt, dass das Thema Gewalt beim Fußball dramatisiert werde, um Entschlossenheit zu zeigen. „Horrenden Zahlen an Wohnungseinbrüchen stehen nur marginale Aufklärungserfolge gegenüber, da kommt es gut, wenn die Öffentlichkeit glaubt, an jedem Wochenende müssten Zehntausende Polizisten beim Fußball den Bürgerkrieg verhindern.“

Ministerium lobt „Wirksamkeit polizeilicher Maßnahmen“

Das Bundesinnenministerium begründet den Rückgang der Gewalt in der Antwort mit der „Wirksamkeit polizeilicher Maßnahmen“ und spricht davon, dass „mit einer konsequenten Strafverfolgung auch eine generalpräventive Wirkung verbunden“ ist. Zelt sieht das anders: „Wenn es in Zügen und an Bahnhöfen friedlicher geworden ist, dann sehe ich das eher als einen Erfolg der Fanarbeit in den Vereinen und der Fanprojekte.“ Es sei aber auch Folge von „deeskalierenden, situationsgerechneten Polizeieinsätzen, die zeigen, wie es gehen kann“.

Wie unterschiedlich die Wahrnehmung sein kann, zeigt etwa ein Vorfall im März mit Kaiserslauterer Fans in Köln. Dort ruhte der Bahnverkehr im Hauptbahnhof zeitweilig wegen Ausschreitungen zwischen Fans und Polizei. Ein Video zeigt unter Kapuzen verborgene Randalierer, die ohne jeden Respekt auf Polizisten losgehen. Die Polizei meldete zwei leicht verletzte Beamte. Die Krawalle bestimmten die Berichterstattung.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von Youtube, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Tags darauf versuchte die „Rot-Weiße Hilfe Kaiserslautern“, die Vorkommnisse in ein anderes Licht zu rücken: Polizisten hätten zuvor die Aggressionen geschürt und in ein vollbesetztes Abteil Pfefferspray gesprüht. Pfefferspray ist ein „Zwangsmittel“, das sich in der Statistik zu den Verletzten auch wiederfindet. Nicht selten sind auch Polizisten bei Einsätzen Opfer des Reizstoffs, 29 wurden in den drei Spielzeiten durch eigene Maßnahmen verletzt.

Pfefferspray „vorsätzliche Körperverletzung“?

Fan-Sprecher Zelt spricht gar von Fällen vorsätzlicher Körperverletzung im Amt: „Wenn ein Polizist einen geschlossenen Raum wie einen Wagen mit Reizgas einnebelt, was ist das dann anderes?“ Die Dunkelziffer durch mit Reizgas verletzte Fans ist nach seiner Ansicht hoch. Und wenn ein Fan durch Pfefferspray verletzt werde und das melde, dann stufe die Polizei ihn eher als Störer und nicht als Unbeteiligten ein.

In der vielfach kritisierten Zersplitterung der Spieltage und ungünstigen Spielansetzungen sieht „ProFans“-Sprecher Zelt keinen Grund für zurückgehende Gewalt: „Es wird nicht nur die Zahl der Auswärtsfahrer dezimiert, es ändert sich auch die Zusammensetzung: Es bleiben verhältnismäßig mehr von denen weg, die aufgrund ihres Alters und der Lebenserfahrung zu den eher Besonnen zählen.“

Zelt denkt dabei auch an „seinen“ Verein Union Berlin und die Vorfälle bei der Rückfahrt aus Rostock. „Es geht darum, eine kritische Masse von besonnenen, beruhigenden oder wenn nötig auch einschreitenden Leuten in so einem Zug zu haben, die Ausschreitungen im Keim erstickt.“ Da sei es kontraproduktiv, wenn durch repressive Polizeieinsätze und Schikanen gerade solche Fans allenfalls noch mit dem Auto fahren. Dazu komme, dass die Bahn ohne Abschluss von Ermittlungen Beförderungsverbote ausspreche, alleine aufgrund von Personalienfeststellungen.

Spezielle Kicker-Züge bislang nur eine Idee

Politik, Bahnunternehmen und Vereine denken aber auch über einen anderen Weg nach: Eigene Fan-Züge ohne Zwischenhalt, die extra umgebaut und nahezu unkaputtbar sind, zudem einen separaten Urinalwagen haben. Die Verkehrsminister begrüßten die von NRW vorangetriebene Idee, Gespräche über die Finanzierung sind aber noch nicht abgeschlossen.

Fananwalt Noli sieht das nicht uneingeschränkt positiv: „Reisende Fußballfans generell als etwas Anormales und Gefährliches zu betrachten und in Sonderzüge zu verfrachten, würde nichts anderes bedeuten, als ihnen das grundsätzliche Recht auf Bewegungsfreiheit abzusprechen.“ Noli fürchtet eine generelle Tendenz: „Eine unliebsame Gruppe wird an den Rand der Gesellschaft gedrängt, um dadurch letztlich den Entzug von Rechten zu vollziehen und zu erproben.“