Brüssel. Der FDP-Mann Lambsdorff sieht den Flüchtlingsdeal mit Erdogan noch nicht am Ende. Er kritisiert aber Merkels Umgang mit der Türkei.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan besucht seinen russischen Kollegen Putin, mit dem er noch vor kurzem über Kreuz lag. Nun will er der EU zeigen, dass er keineswegs auf sie angewiesen ist. Alexander Graf Lambsdorff, Vizepräsident des Europa-Parlaments und FDP-Außenpolitiker, sieht dennoch keinen Grund zur Nervosität in Brüssel und Berlin. Auch den umstrittenen Flüchtlingsdeal werde Ankara so schnell nicht kippen. Einen EU-Beitritt der Türkei hingegen hält er für illusorisch.

Graf Lambsdorff, wie realistisch ist die russische Option – kann Erdogan die EU damit unter Druck setzen?

Alexander Graf Lambsdorff: Die russische Option ist keine Alternative zur Orientierung auf Europa. Erdogan besucht Putin, um deutlich zu machen, dass er auch anders kann. Doch sein Land, die Türkei, braucht den Zugang zum europäischen Markt für ihr Wachstum und die Absicherung durch die Nato für ihre Sicherheit. Das weiß Erdogan. Man sollte das Ganze deshalb nicht zu hoch hängen.

Was hat Putin der Türkei zu bieten?

Lambsdorff: Energie, viele russische Touristen und Bauaufträge – die türkische Bauindustrie ist sehr leistungsfähig und kommt in Russland oft zum Zug.

Wer ist stärker auf den anderen angewiesen – die EU auf die Türkei oder umgekehrt?

Lambsdorff: Das ist kein Entweder-Oder. Unsere Schicksale sind miteinander verwoben und werden das trotz aller Schwierigkeiten in Zukunft bleiben. Die Türkei ist ein Land mit mittlerem Einkommen, das sich wirtschaftlich entwickeln will. Die Märkte und das nötige Know-how kann nur Europa zur Verfügung stellen. Und wir brauchen die Türkei als wichtigen Nato-Staat in einer geopolitisch extrem schwierigen Region.

Was die Beitrittsverhandlungen anlangt, zieht die EU die rote Linie bei der Todesstrafe. Richtig?

Lambsdorff: Richtig, aber auch nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit. Die Frage nach dem Sinn der Verhandlungen stellt sich doch seit Jahren und die Bundesregierung hat eine widersprüchliche, unsinnige Position. Die Kanzlerin sagt als CDU-Vorsitzende, sie sei gegen den Beitritt, will aber genau darüber weiter verhandeln. Sigmar Gabriel sagt, in den nächsten 20 Jahren gibt es keinen Beitritt, aber wir sollen trotzdem verhandeln. So etwas ist doch zutiefst unehrlich und das merken die Menschen.

Was wäre stattdessen zu tun?

Lambsdorff: Richtig wäre, anstelle der Beitrittsverhandlungen gemeinsam mit der Türkei eine positive Agenda zu setzen, für die Felder, auf denen wir konkret zusammenarbeiten können, von der Flüchtlingspolitik über Tourismus und Kultur bis zu Energie und Wirtschaft. Wir wollen als FDP der Türkei ja nicht wie die CSU die Tür einfach vor der Nase zuschlagen, sondern respektvollen Umgang mit einem schwierigen Partner, der unser Nachbar bleiben wird.

Würde ein Abbruch der Gespräche nicht Herrn Erdogan zusätzliche Unterstützung im eigenen Land zutreiben?

Lambsdorff: Das glaube ich nicht. Aber vielen Menschen in der EU würde man die Befürchtung nehmen, die Türkei könnte eines Tages der Europäischen Union beitreten. Die EU-Erweiterung der vergangenen zehn Jahre hat viel Sorge darüber ausgelöst, wie weit es noch gehen soll. Diese Sorge ist einer der Gründe, warum die Bürger die EU mit Skepsis betrachten. Ein Ende der Beitrittsverhandlungen wäre daher hilfreich für den europäischen Gedanken. Deutschland und Österreich sollten jetzt an einem Strang ziehen und der Eröffnung weiterer Kapitel nicht zustimmen. Das wäre faktisch das Ende des Beitrittsprozesses.

Will Erdogan überhaupt noch in die EU?

Lambsdorff: Ich kenne niemanden, der das ernsthaft glaubt. In Brüssel gibt es auch keinen maßgebenden Akteur, der glaubt, die Türkei werde irgendwann beitreten. Das ist Illusionstheater, und damit sollte man die Bürger in einer Demokratie verschonen.

Kann die EU ohne das Abkommen mit Ankara die Flüchtlingskrise unter Kontrolle halten?

Lambsdorff: Über das Thema müssen wir auch in schwierigen Zeiten mit der Türkei im Gespräch bleiben. Natürlich hat auch die Schließung der Balkanroute eine Rolle gespielt. Letztendlich wird nur die Stabilisierung Syriens den Flüchtlingsstrom abreißen lassen.

Was muss Erdogan tun, damit das EU-Parlament der Visafreiheit zustimmt?

Lambsdorff: Rechtsstaatliche Standards sind einzuhalten – das gilt besonders für die Anti-Terrorgesetzgebung, die bisher dem Missbrauch Tür und Tor öffnet. Das sieht ja jetzt jeder. Die einschlägigen Paragrafen müssen weg, Rechtsstaatlichkeit muss unbedingt gewährleistet werden.

Und dafür muss man notfalls in Kauf nehmen, dass die Türkei den Flüchtlingspakt aufkündigt?

Lambsdorff: Ich glaube, dass der Türkei ebenfalls an dem Pakt liegt. Im Übrigen ist auch dieses Thema von der Bundeskanzlerin falsch angegangen worden. Visumfreiheit für alle Türken ist der falsche Weg. Über Erleichterungen für bestimmte Gruppen kann man reden, Künstler, Geschäftsleute oder Studenten zum Beispiel. Auch so gibt es nach wie vor Interesse auf beiden Seiten, den Flüchtlingspakt einzuhalten.