London/Berlin/Brüssel. Die EU drückt aufs Tempo: Bis Oktober will sie nicht auf den Austrittsantrag Großbritanniens warten. Die Gangart verschärft sich.

Zwei Tage vor dem EU-Gipfel verschärft die Europäische Union die Gangart gegenüber London. Großbritannien müsse nach dem Brexit-Votum der Briten nun den Austritt des Landes schnellstmöglich auch formell beantragen, um eine lange Hängepartie zu vermeiden, hieß es in Brüssel und Berlin.

Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD), sagte der „Bild am Sonntag“: „Der Gipfel am kommenden Dienstag ist hierfür der geeignete Zeitpunkt.“ Die Briten wollen sich dagegen bis Oktober Zeit lassen.

Ein solches Spiel auf Zeit will die EU aber nicht hinnehmen. Nach einem Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ wollen auch die vier großen Fraktionen des Parlaments - die konservative Europäische Volkspartei (EVP), die Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen - den britischen Premierminister David Cameron auffordern, den Austrittswunsch beim Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs am Dienstag zu erklären und so das Austrittsverfahren zu starten.

Schulz wirft Cameron Parteitaktik vor

Schulz betonte in dem Interview weiter: „Ein Zögern, nur um der Parteitaktik der britischen Konservativen entgegenzukommen, schadet allen. Eine lange Hängepartie führt zu noch mehr Verunsicherung und gefährdet dadurch Jobs. Deshalb erwarten wir, dass die britische Regierung jetzt liefert.“ Zuvor hatte Schulz dem britischen Premier in den ARD-„Tagesthemen“ vorgeworfen, er nehme erneut aus parteitaktischen Überlegungen einen ganzen Kontinent „in Geiselhaft“.

Auch Deutschland und die anderen fünf EU-Gründerstaaten verlangten bei einem Außenministertreffen am Samstag in Berlin rasche Austrittsverhandlungen. 1957 hatten Deutschland Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet, den Vorläufer der EU.

Cameron hatte nach dem Brexit-Votum der Briten seinen Rücktritt bis Oktober angekündigt - die Verhandlungen solle erst sein Nachfolger führen. Frankreichs Außenminister Jean-Marc Ayrault forderte dagegen am Samstag in Berlin - ohne jegliche diplomatische Zurückhaltung - einen neuen britischen Regierungschef „innerhalb weniger Tage“.

Fast drei Millionen für zweites Referendum

In dem historischen Brexit-Referendum hatten am Donnerstag knapp 52 Prozent der Briten dafür gestimmt, dass Großbritannien als erstes Land überhaupt die EU verlässt.

Inzwischen fordern allerdings immer mehr Briten eine neue Abstimmung. Bis zum Sonntagmorgen kletterte die Zahl der Unterstützer einer entsprechenden Online-Petition auf weit mehr als 2,8 Millionen. Minütlich kamen am Wochenende Tausende neue digitale Unterschriften hinzu. Schon 100 000 Unterstützer reichten, damit das Parlament eine Debatte zumindest in Betracht ziehen müsse, hieß es.

Der Labour-Abgeordnete David Lammy rief das Parlament in London auf, das EU-Referendum zu kippen. Das Ergebnis sei nicht bindend. „Wir können diesen Wahnsinn durch eine Abstimmung im Parlament stoppen und diesen Alptraum beenden“, zitierte ihn die Agentur PA am Samstag.

Noch am Sonntag wollten sich Diplomaten aus den 27 verbleibenden EU-Mitgliedsstaaten ohne britische Vertreter in Brüssel treffen, um den EU-Gipfel am Dienstag und Mittwoch vorzubereiten. Am Dienstag soll Cameron seinen Kollegen aus den 27 anderen Mitgliedstaaten in Brüssel erklären, wie er sich das Scheidungsverfahren mit der EU vorstellt. Am Mittwoch ist dann erstmals ein informelles Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs ohne Großbritannien geplant.

Großbritannien droht die Spaltung

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verlangte von der britischen Regierung Auskunft über das weitere Vorgehen zur Trennung von der EU. „Ehrlich gesagt, soll es nicht ewig dauern (...), aber ich würde mich jetzt auch nicht wegen einer kurzen Zeit verkämpfen“, sagte Merkel nach einem Spitzentreffen von CDU und CSU am Samstag.

Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) geht nicht davon aus, dass die britische Regierung schon am Dienstag beim EU-Gipfel einen Antrag auf den Austritt aus der Gemeinschaft stellen wird. „Dafür habe ich überhaupt keinen Hinweis, dass dies geschehen wird, sondern ich glaube eher, dass dieser Antrag in den nächsten Wochen oder Monaten gestellt wird, möglicherweise auch erst von einer neuen Regierung“, sagte Altmaier im „Interview der Woche“ im Deutschlandfunk, das am Sonntagvormittag ausgestrahlt werden sollte.

Manfred Weber (CSU), Chef der EVP-Fraktion im Europaparlament, sagte der „Bild am Sonntag“: „Die beginnende Verzögerungstaktik in London ist inakzeptabel.“ Weber plädierte für einen Austritt binnen eines Jahres.

Großbritannien droht indes die Spaltung: Schottland bereitet ein neues Referendum für seine Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich vor, wie Regierungschefin Nicola Sturgeon nach einem Krisentreffen in Edinburgh erklärte. Damit solle Schottlands Platz in der Europäischen Union gesichert werden. Bei der Volksabstimmung hatte eine deutliche Mehrheit der Schotten für den Verbleib in der EU votiert. Im Jahr 2014 hatten 55 Prozent der Schotten gegen eine Loslösung des nördlichen Landesteils von Großbritannien gestimmt. (dpa)