Berlin. Den Weg aus der EU-Krise nach dem Brexit will Deutschland vor allem mit den Franzosen gehen. Doch folgen ihnen die anderen EU-Staaten?

Wer an diesem Morgen Außenminister Frank-Walter Steinmeier treffen will, muss durch das alte West-Berlin, nach Reinickendorf. Am Ufer des Tegeler Sees schlendern Familien und Rentner, auf dem Wasser segeln Schüler im Zickzack. In der Fußgängerzone ist Markt, die Freiwillige Feuerwehr lässt auf der abgesperrten Straße Kinder alte Fahrzeuge anschauen, Löschwagen aus der Zeit, als die Stadt noch geteilt war.

Die Suche nach einem Plan B für eine EU ohne Großbritannien führt zurück in das alte Europa. Zur Villa Borsig, dem Prachtbau der Unternehmerfamilie, die mit der Produktion von Dampflokomotiven viel Geld machte. Hier, direkt am Ufer des Tegeler Sees.

Steinmeier steht um kurz vor halb eins an diesem Sonnabend auf der Terrasse der Villa, neben ihm die Außenminister aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Italien und Luxemburg – die Gründerstaaten der EU, die damals, 1957, noch Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) hieß. Vor ihnen stehen 150 Journalisten und Kameraleute. Krisengipfel, am Tag nach dem Brexit. Die Botschaft des alten Europas lautet: Verlässlichkeit. Zusammenhalt. Zukunft. Aber auch: Die Briten sind raus – und wir müssen jetzt sehen, wie es für uns weitergeht. In der EU.

Außenminister machen Druck

„Es muss uns jetzt die Möglichkeit gegeben werden, dass wir uns mit der Zukunft Europas beschäftigen“, sagt Steinmeier. Daher sollte so schnell wie möglich auch das Austrittsverfahren mit den Briten geführt werden. „Wir beginnen sofort“, sagt auch der französische Außenminister Jean-Marc Ayrault. Die Außenminister machen Druck – anders als Kanzlerin Angela Merkel, die sich „wegen einer kurzen Zeit nicht verkämpfen wolle“ und weiter auf Großbritannien als „engen Partner“ setze.

Die Außenminister Frankreichs und Deutschlands aber haben schon vor gut zwei Monaten begonnen mit der Arbeit an einem Plan B – B wie Brexit. Seit Ostern trafen sich nach Informationen unserer Redaktion Mitarbeiter der beiden Ministerien regelmäßig. Es fing an als eine Art Übung für den Ernstfall. Wie würde es weitergehen ohne die Briten? Dieser Konjunktiv ist nun Geschichte. Und das oberste Ziel lautet: zu verhindern, dass weitere Staaten durch eine Anti-EU-Stimmung austreten.

Mit einer „flexiblen Union“ aus der Brexit-Krise

Und das soll auf zwei Wegen gelingen: zum einen durch eine „flexible Union“. „Wir müssen anerkennen, dass es unter den Mitgliedsstaaten mit Blick auf das Projekt europäische Union unterschiedliche Ambitionsniveaus gibt“, schreiben die sechs Außenminister in einer gemeinsamen Erklärung. Es gibt in der EU Staaten, die auf enge Zusammenarbeit setzen. Regierungen, die den Datenaustausch vorantreiben und Richtlinien konsequent umsetzen. Und Staaten, für die der „Ruf nach mehr Europa“ zum Makel oder gar Feindbild geworden ist, weil Regierungen wie in Ungarn oder Polen nationalistische Politik betreiben. Und weil andere Regierungen wie in den Niederlanden und Frankreich unter dem Druck starker Anti-EU-Bewegungen stehen.

Vor allem in Frankreich wächst die Sorge, dass der rechtsextreme Front National die Präsidentschaftswahl 2017 zum Referendum über den EU-Verbleib inszeniert. Der rechte Geert Wilders fordert für die Niederlande bereits den „Nexit“. Eine flexiblere EU würde aber auch bedeuten, dass nicht zwingend alle osteuropäischen Mitgliedsstaaten rasch den Euro einführen. Von der Leitlinie einer wachsenden Union, die möglichst schnell und möglichst stark Staaten in Europa angleicht, weicht die EU nun noch mehr ab. Der Brexit wirkt wie ein Bremsklotz. Man will den Wilders des Kontinents Wind aus den Segeln nehmen. Tempo rausnehmen aus der beschleunigten Anti-EU-Abfahrt in manchen Staaten.

Zum anderen wollen Berlin und Paris Schwerpunkte für die EU-Politik enger fassen – eine Union mit Fokus auf drei Gebiete. Die EU soll zu einem unabhängigen Akteur in der Außen- und Sicherheitspolitik werden – ein Thema, das vor allem für Frankreich nach den Terroranschlägen wichtig ist. Für Deutschland dagegen ist zentral, die Zusammenarbeit in der EU bei der Asylpolitik zu verbessern. Ein bindender Mechanismus zur Lastenteilung sei nötig, um das Dublin-System „wetterfest“ zu machen. Sprich: Verteilquoten für Flüchtlinge, die nach Europa kommen. Bisher klappt das nicht, viele Staaten lehnen Quoten ab. Als dritten Kern setzten Frankreich und Deutschland auf eine Währungspolitik mit dem Euro, die Basis für Wachstum sein soll. „Wir müssen besser darin werden, Ergebnisse zu liefern“, sagen die Außenminister.

Paris und Berlin als Säule der Orientierung in Europa

Aus den bilateralen Arbeitsgruppen ist ein gemeinsames Papier entstanden. Der Titel: „Ein starkes Europa in einer unsicheren Welt“. Die Idee: Die Europäer sollen die EU wieder stärker mit politischen Projekten wie eine Vernetzung der Geheimdienste verbinden – und weniger mit Debatten über Verfahren, Richtlinien und Beitrittsverhandlungen.

Am Freitag hatte der Außenminister das Kanzleramt über den Inhalt informiert. Auf dem Krisengipfel in der Villa Borsig stellten Steinmeier und Ayrault ihr Papier den Kollegen aus den anderen Gründerstaaten vor. In diesen Tagen spricht der SPD-Politiker dann erst mit den Ministern der baltischen Staaten und kurz darauf mit allen verbleibenden EU-Staaten.

Dieser Plan B soll wirken wie eine Säule der Orientierung – gemauert aus Frankreich und Deutschland als mächtigste Staaten dieser EU ohne Briten. Was die konkreten Schritte sind, ist bislang unklar. Offen ist auch, ob andere EU-Staaten beim deutsch-französischen Plan B mitspielen. Dem Signal einer Machtachse zwischen Paris und Berlin sowie dem Krisentreffen nur mit den sechs Gründerstaaten entgegnete der estnische Staatschef mit Kritik: Sollte die Einheit der 27 EU-Mitglieder nach dem Brexit eine Priorität sein, vermittle das Treffen nicht diese Botschaft, schrieb Toomas Hendrik auf Twitter.