Brüssel/Berlin. Unter Vorbehalt will die EU türkische Reisende von der Visapflicht befreien. Steigt dadurch automatisch die Zahl der Asylbewerber?

Versprochen, gehalten? Ende Juni will die EU 75 Millionen Türken von der Visapflicht befreien. Es ist – offenes Geheimnis in Berlin und Brüssel – der Preis für das Flüchtlingsabkommen mit der Regierung in Ankara. Für sie ist die Empfehlung der Brüsseler Kommission von Mittwoch ein Prestigeerfolg. Doch hat sie nur ein Etappenziel erreicht, wie ein Blick ins politische Kleingedruckte zeigt.

Erstens, die Türkei muss 72 Kriterien erfüllen. Das Land hat nach Darstellung des Vizepräsidenten der EU-Kommission, Frans Timmermans, „eindrucksvolle Fortschritte“ erzielt. Fünf Auflagen sind aber offen. Dabei geht es um den Kampf gegen Korruption, die Zusammenarbeit mit der Polizeibehörde Europol, die Justizzusammenarbeit, den Datenschutz und Gesetze zum Anti-Terror-Kampf.

EU-Parlament hat das letzte Wort

Zweitens, die Entscheidung trifft das EU-Parlament. Das werde nicht darüber befinden, bevor Ankara alle Vorgaben umgesetzt habe, stellte der Vorsitzende der konservativen EVP-Fraktion im Parlament, Manfred Weber (CSU), klar. Am EU-Rat könnte sie auch scheitern. Allerdings hatten die Staats- und Regierungschefs dem Flüchtlingsdeal schon zugestimmt; inklusive der Visaforderung der Türkei.

Drittens verlangt die EU von der Türkei, Pässe mit biometrischen Daten einzuführen, die ein Foto und Fingerabdrücke enthalten. Das wird sich Monate hinziehen, mindestens bis Oktober. Freilich besitzt nur jeder zehnte Türke einen Pass. Es wäre keine Sonderregelung. Vielmehr gewährt die EU jedem Beitrittskandidaten Visafreiheit, so etwa Serbien und Albanien.

Vorbehalte in allen Fraktionen

Es gibt starke Vorbehalte gegen die Visa-Freiheit, quer durch die Fraktionen des EU-Parlaments, in den Mitgliedsstaaten, nicht zuletzt bei den Bürgern. 62 Prozent fänden die Visafreiheit nicht gut, wie eine aktuelle ARD-Umfrage ergab.

Einwand Nummer eins: Das Zugeständnis bringt die Türkei einen Schritt näher an den EU-Beitritt. Einwand Nummer zwei: Sobald die Menschen problemlos einreisen können, kommen auch mehr Asylbewerber. Das zeigte die Erfahrung mit Serbien. In Berlin sorgt sich nicht nur die CSU, dass „innertürkische Probleme“ nach Deutschland exportiert werden, zum Beispiel Kurden. Aus der Luft gegriffen ist die Forderung nicht.

Deutschland und Frankreich halten sich Hintertür offen

Innenminister Thomas de Maizière (CDU) teilt solche Bedenken, geht aber diskret vor, um Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nicht zu brüskieren. Mithilfe Frankreichs kämpft de Maizière hinter den Kulissen für eine Schutzklausel. Sie soll die Möglichkeit eröffnen, zumindest vorübergehend wieder Visa zu verlangen, falls die Reisefreiheit zum Anstieg der Asylbewerber oder Armutsmigranten führen sollte. Nicht zufällig würde die Befreiung von der Visapflicht lediglich für Kurzaufenthalte bis zu 90 Tagen – pro Halbjahr – gelten.

Für die Menschen in der Türkei wäre sie ein Gewinn. Die Visagebühr kostet 60 Euro. Vor allem wird es leichter, kurzfristig und unkompliziert Verwandte, Geschäftspartner und Freunde zu besuchen oder Urlaub in der EU zu machen.

Ende der Politik des Durchwinkens

In der Flüchtlingskrise hatte sich die Türkei verpflichtet, die Schlepper zu bekämpfen, die Überfahrt über die Ägäis zu erschweren und von Griechenland Migranten zurückzunehmen. Da sie ihre Zusage eingehalten hat, ist die EU am Zuge. Es gibt einen großen politischen Druck, das Versprechen gegenüber der Türkei einzuhalten – es ist ein Schlüsselfaktor von Merkels Flüchtlingspolitik. Tatsächlich begrüßte ihr Sprecher Steffen Seibert gestern umgehend die Empfehlung der Kommission. Ganz in Merkels Sinne ist es, dass Brüssel zugleich das Asylsystem ändern will.

Erst einmal hält die Kommission am Dublin-System fest. Das heißt: Das Land, über das ein Asylbewerber erstmals die EU betritt, ist für die Prüfung des Antrages zuständig. Das Prinzip wird künftig um einen Korrekturmechanismus ergänzt: Wenn zu viele Migranten in einem einzigen Land ankommen – gemessen an Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft –, werden sie auf andere EU-Staaten verteilt. Sperrt sich ein Mitglied, soll es pro abgelehntem Bewerber 250 000 Euro zahlen. Die Vergangenheit hat gezeigt: Wenn es unfair zugeht, halten sich Staaten nicht an das Dubliner Verfahren. Dann werden Flüchtlinge durchgewunken.