Berlin. Hunderte Flüchtlinge aus Afrika sollen im Mittelmeer ertrunken sein. Kritiker der offiziellen Flüchtlingspolitik sehen sich bestätigt.

Sie kamen aus Somalia, Äthiopien und Eritrea, sie hatten nur ein Ziel: Europa. Doch auf dem Weg von Ägypten über das Mittelmeer nach Italien kenterten offenbar die Flüchtlingsboote – bis zu 400 Menschen sollen ertrunken sein, nur wenige Dutzend konnten ersten Berichten zufolge gerettet werden. Einzelheiten der Katastrophe blieben am Montag unklar, offizielle Stellen versuchten fieberhaft, genauere Informationen zu bekommen. Aber somalische Behörden bestätigten das Unglück ebenso wie der italienische Außenminister Paolo Gentiloni. „Es ist sicher, dass wir es genau ein Jahr nach der Tragödie in libyschen Gewässern wieder mit einer Tragödie zu tun haben“, sagte Gentiloni.

Vor einem Jahr hatte sich im Mittelmeer eine Schiffskatastrophe ereignet, bei der 800 Flüchtlinge ertranken. Die Welt war schockiert. Auch wegen dieser Parallele ist in Berlin das Entsetzen groß. Kritiker der offiziellen Flüchtlingspolitik sehen sich bestätigt. „Die Toten auf der Mittelmeerroute waren absehbar, und es werden leider nicht die letzten sein“, sagte die Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, Katrin Göring-Eckardt, unserer Redaktion. Linke-Parteichefin Katja Kipping meinte: „Es ist traurig und beschämend, wie schnell sich die Befürchtungen bewahrheitet haben.“ Und es mache wütend, weil der Tod der Flüchtenden vermeidbar gewesen wäre, sagte Kipping unserer Redaktion.

Menschen aus Nigeria oder Mali in den Booten

Tatsächlich warnen Experten seit Längerem vor derartigen Katastrophen: Denn während die europäische Öffentlichkeit vor allem auf den Flüchtlingsstrom von der Türkei nach Griechenland blickt, spielen sich in anderen Teilen des Mittelmeers die größeren Dramen ab. Seit Anfang des Jahres sind nach UN-Angaben schon 20.000 Menschen über die zentrale Mittelmeerroute nach Italien geflüchtet – fast doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum 2015. Mindestens 700 Menschen sind ertrunken. Laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR steigen jetzt vor allem Menschen aus Nigeria, Somalia und Mali in die Boote – sie flüchten vor Armut, aber auch vor dem Terror islamistischer Milizen.

Vergangene Woche, bei steigenden Temperaturen und abflauenden Winden, machten sich täglich mehrere Tausend auf den Weg über das Meer. Die italienische Küstenwache ist im Dauereinsatz. Auch die EU-Marinemission, an der die Bundeswehr beteiligt ist, ist alarmiert: Am Wochenende wurden unter anderem von einer Bundeswehrfregatte 800 Menschen vor Sizilien geborgen. Deutsche Soldaten sind seit Mai vergangenen Jahres im Mittelmeer stationiert, um Flüchtlinge aus Seenot zu bergen und Schlepperboote zu stoppen – die EU hat damit die Konsequenz gezogen aus der Flüchtlingskatastrophe am 18. April 2015. Damals war ein völlig überladenes Flüchtlingsboot vor der libyschen Küsten gekentert. Allein deutsche Marinesoldaten retteten seitdem 13.350 Menschen aus dem Meer; zugleich kamen im vergangenen Jahr 3700 Flüchtlinge ums Leben, ohne dass die Öffentlichkeit groß Notiz nahm.

Mindestens 200.000 Menschen warten in Libyen

Damit dürfte es nun vorbei sein. Nach Expertenangaben warten mindestens 200.000 Menschen in Libyen auf den geeigneten Moment, um heimlich nach Europa überzusetzen. In dem vom Bürgerkrieg zerrütteten Land erleichtert das Fehlen einer Zentralregierung und die schlechte Sicherheitslage die Arbeit der Schleuser – auch wenn diese Route länger und gefährlicher ist als die von der Türkei nach Griechenland. Vor allem aus dem Westen des Landes, aber auch von Tunesien und Ägypten starten im Sommer viele, überwiegend schrottreife, Boote, die Kurs auf italienische Inseln wie Lampedusa nehmen. Die Zahl der möglichen Migranten sei „alarmierend,“ sagt EU-Ratspräsident Donald Tusk. Zwar wirbt die Bundesregierung für ein Abkommen mit Libyen, damit die Schiffe des EU-Marineinsatzes in libysche Hoheitsgewässer operieren könnten, um Schleuser zu stoppen. Aber die neue Regierung in Libyen ist erst im Aufbau. So warnt Italien verzweifelt vor einem neuen Flüchtlingsstrom.

Nicht nur die Regierungen in Wien und Rom haben die Sorge, die Schließung der Balkanroute treibe jetzt die Flüchtlinge aus Syrien oder dem Mittleren Osten auf einen Ausweichweg nach Italien. Noch kann von einer Verlagerung der Flüchtlingsroute zwar nicht die Rede sein, wie die Internationale Organisation für Migration in Genf erklärt. In Griechenland landen vorwiegend Syrer, in Italien hauptsächlich Afrikaner.

Legale Wege in die EU gefordert

Das dürfte sich aber bald ändern: In Griechenland sitzen 53.000 Flüchtlinge fest, die Schleuser machen ihnen bereits neue Angebote für Italientransfers nach Brindisi, Bari oder Venedig. Eine andere potenzielle Route führt auf dem Landweg nach Albanien und von dort über die Adria nach Italien. Der italienische Flüchtlingsrat warnt, der neue Andrang sei „der Kollateralschaden“ des Abkommens zwischen EU und Türkei.

So sieht es auch die Opposition in Deutschland. Grünen-Fraktionschefin Göring-Eckardt sagt: „Der EU-Türkei-Deal zwingt die Menschen wieder auf die Boote.“ Statt nun auch noch ein Abkommen mit Libyen zu schließen, sollte die EU legale Zugangswege ermöglichen. Auch Linke-Chefin Kipping meint, der „schäbige Deal“ mit der Türkei zwinge Menschen auf der Flucht geradezu, sich längere und gefährlichere Routen zu suchen. Statt auf die Abschottung Europas zu setzen, wären legale Wege in die EU und eine europäische, solidarische Lösung nötig gewesen, sagt Kipping. Zurecht laute die Warnung jener, die sich für eine humanitäre Politik einsetzen: „Flüchtende lassen sich nicht aufhalten.“