Berlin. Kanzleramtsminister Altmaier (CDU) spricht im Interview über Flüchtlingszahlen, Streit mit der CSU und Baustellen der großen Koalition.

Am Vormittag war er noch in Frankreich – die saarländische Heimat in Sicht –, am Abend steht Peter Altmaier (CDU) schon wieder in seinem Büro im Kanzleramt Rede und Antwort. Der 57-Jährige gilt als die rechte Hand der Kanzlerin und ist ihr Flüchtlingskoordinator. Am Vortag kamen nur noch 70 Migranten, gleichwohl steht die Regierung weiter unter Rechtfertigungsdruck. Der Brief der bayerischen Regierung vom Januar mit der Bitte, die Flüchtlingspolitik zu erklären, ist unbeantwortet. Die Antwort werde „sorgfältig geprüft“, wehrt Altmaier ab.

Herr Altmaier, ist es der neue Stil Ihrer Regierung, den bayerischen Kollegen über den österreichischen Rundfunk mitzuteilen, wann Grenzkontrollen wegfallen?

Peter Altmaier: Der Innenminister hat von „Überlegungen“ gesprochen. Entscheidungen werden getroffen, wenn wir ein genaueres Bild von der Flüchtlingslage haben. Darüber sprechen wir dann auch in der Koalition. Fakt ist, dass die Zahl der Flüchtlinge an der österreichisch/bayerischen Grenze stark zurückgegangen ist.

Kommen Sie auf einen Nenner mit Bayerns Ministerpräsidenten Horst Seehofer?

Altmaier: Wir haben uns noch immer geeinigt. Die Nagelprobe wird sein, wenn wir uns mit den Ländern auf Maßnahmen zur Integration der Flüchtlinge einigen und als Bundesregierung im Frühsommer ein Integrationsgesetz beschließen. Das werden klare Zeichen der Handlungsfähigkeit sein. Und ich bin sicher: im Einklang mit der CSU und Bayern. Die Koalition ist handlungsfähig und sie wird dies unter Beweis stellen.

Seehofer will eine Obergrenze. Das ist ein klarer Dissens zur Kanzlerin. Wie wollen Sie den auflösen?

Altmaier: Die Obergrenzen-Diskussion hat an Bedeutung verloren, weil die Zahl der Flüchtlinge stark zurückgegangen ist. Im Übrigen zeigt der Blick nach Österreich, dass es juristisch sehr viel komplizierter ist, als viele sich das gedacht haben. Sowohl das Recht auf Asyl wie die Verpflichtungen, die sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention und dem europäischen Recht ergeben, sind zu beachten. Deshalb konzentrieren wir uns besser auf Fragen, die den Bürgern unmittelbar auf den Nägeln brennen.

Peter Altmaier beim Interview mit Politikredakteur Miguel Sanches (links) und Zentralredaktions-Chefredakteur Jörg Quoos.
Peter Altmaier beim Interview mit Politikredakteur Miguel Sanches (links) und Zentralredaktions-Chefredakteur Jörg Quoos. © Reto Klar | Reto Klar

Können Sie ausschließen, dass 2016 erneut eine Million Flüchtlinge kommen wird?

Altmaier: Die Bundesregierung kann die Zahlen noch nicht sicher abschätzen. Die Vereinbarung mit der Türkei ist gerade erst in Kraft getreten. Sie funktioniert besser als alle erwartet hätten. Trotzdem tun wir gut daran, die Situation von Tag zu Tag zu beobachten. Unser Ziel war und ist, die Zahl der Flüchtlinge deutlich zu reduzieren. Das scheint zu gelingen.

Wo sind noch offene Fragen?

Altmaier: Erstens die Flüchtlingsbewegung auf der sogenannten Italien-Route, wie können wir auch hier die illegale Schleusung eindämmen? Zweitens die dauerhafte bessere Versorgung der Migranten, die in der Türkei leben, immerhin drei Millionen Menschen: Es geht um Unterbringung und Zugang zum Arbeitsmarkt und Schulunterricht für die Kinder. Wir sehen am Beispiel Irak, dass die dortigen Erfolge gegen den IS dazu führen, dass Monat für Monat etwa 500 Flüchtlinge freiwillig aus Deutschland zurückkehren.

Wie viele Rückkehrer legen Sie ihren Planungen zugrunde?

Altmaier: Wir haben mehrere Kategorien von Migranten. Viele haben einen Schutzstatus, würden aber gern zurückkehren. Doch je länger der Bürgerkrieg in Syrien anhält, desto mehr Menschen werden hier Wurzeln schlagen. Wer bei uns bleibt, muss eine Integrationsperspektive haben. Wir wollen keine Parallelgesellschaft.

Wer sich nicht integrieren will, fliegt raus?

Altmaier: Ich würde es umgekehrt sagen. Es muss einen Anreiz für diejenigen geben, die bereit sind, die Sprache zu erlernen, sich zu integrieren und ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Aber lassen sie mich zu einer weiteren Gruppe kommen ...

Bitte!

Altmaier: Da sind diejenigen, die bloß ein besseres Leben suchen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entscheidet derzeit über 50.000 Fälle im Monat, mehr als ein Drittel der Anträge wird abgelehnt. Wir müssen dafür sorgen, dass die Zahl der Rückführungen deutlich zunimmt. Wir hatten im letzten Jahr 37.220 freiwillige Rückkehrer und 22.200 Abgeschobene. Das macht insgesamt 60.000. Ein realistischer Maßstab für 2016 wäre eine Verdoppelung dieser Zahlen. Da sind die Länder gefordert.

War die Öffnung der Grenzen im letzten Sommer im Alleingang ein Fehler?

Altmaier: Wir standen vor der Situation, dass mehrere Zehntausende Flüchtlinge auf der Balkanroute unterwegs waren. In dieser humanitär absolut einmaligen Situation haben Deutschland und Österreich entschieden, die Grenze nicht zu schließen. Das war eine Entscheidung, für die wir uns nicht zu schämen brauchen. Es ist danach gelungen, in nur sechs Monaten die Zusammenarbeit mit der Türkei, Griechenland, mit Jordanien und Libanon von Grund auf zu erneuern und eine Lösung zu finden. Das ist eine enorme Leistung. Wir haben richtig gehandelt, auch im Sinne der Stabilität Europas.

Der Entscheidungsstau in der Innenpolitik ist mit Händen zu greifen. Wann kommen Sie voran?

Altmaier: Ich bin kein Prophet. Aber ich weiß, dass wir bisher in der Koalition stets erfolgreich zusammengearbeitet haben, trotz schwieriger Entscheidungen. Wir haben jetzt drei Monate, um die verbliebenen streitigen Fragen zu klären, neben dem Integrationsgesetz eine Reihe von Vereinbarungen zur Sozialpolitik, zur Leiharbeit und Werkverträgen, zur Elektromobilität, zur Energiewende. Wir haben eine Chance, die wesentlichen Entscheidungen bis zum Sommer zu treffen.

CSU-Chef Seehofer sorgt sich, dass die Union unter 30 Prozent kommt. Wie wollen Sie mit Ihrer Partei wieder zu stabilen Mehrheiten gelangen?

Altmaier: Indem wir die Menschen von der Wirksamkeit unserer Politik überzeugen. Als ich im Mai 2012 Umweltminister wurde, lag die Union bei 30 Prozent. Eineinhalb Jahre später errangen wir bei der Bundestagswahl 41 Prozent. Das zeigt, dass die Menschen genau hinschauen, ob wir vorhandene Probleme lösen und vereinbarte Vorgaben umsetzen.

Zuletzt bei den Landtagswahlen haben sie es getan, und nicht zum Vorteil der CDU ...

Altmaier: Diese Wahlen fanden zu einem Zeitpunkt statt, als der Erfolg der Flüchtlingspolitik nicht sichtbar war, das Abkommen mit der Türkei noch ausstand und die Zahlen noch nicht zurückgegangen waren. Die Wahlen waren eine Momentaufnahme. Wenn sie sechs Wochen vorher oder auch nachher stattgefunden hätten, hätte es womöglich in Rheinland-Pfalz für die CDU gereicht und auch jetzt wäre das Ergebnis vermutlich besser. So ist das manchmal. Entscheidend ist, dass wir zur Bundestagswahl gute Ergebnisse vorzuweisen haben werden. Solide Finanzen, gutes Wachstum, mehr Arbeitsplätze. Und klar: auch weniger Flüchtlinge.