Beim Wiener „Tatort“ war nicht nur die Geschichte ein Schock
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Von Aaron Clamann
Berlin. Ein Student will seine Eltern als Gesellschaftskritik töten. Er nimmt eine Geisel, überträgt alles im Netz. Ein ungewöhnlicher Krimi.
Der „Tatort – Schock“ ist anders als die anderen Filme der ARD-Krimi-Reihe. Er startet nicht wie üblich mit einem Mord und der passenden Leiche, sondern mit der Androhung eines erweiterten Suizids. Die Ermittler Moritz Eisner (Harald Krassnitzer) und Bibi Fellner (Adele Neuhauser) wissen kaum etwas und befinden sich so in einem Spannungsbogen, den der Tatverdächtige erst am Filmende auflöst.
Diese Rahmenhandlung des „Tatorts“ aus der österreichischen Hauptstadt bietet alles für einen gelungen Krimi: ein Täter, der dem Zuschauer bekannt ist, ein unklares Motiv und Polizisten, die untypische Wege gehen, um den Fall zu lösen.
„Tatort“ aus Wien zeigt den „Schock“
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Ein Mord als Kapitalismuskritik?
Der mutmaßliche Täter ist der 22-jährige Medizinstudent David Frank (Aaron Karl). „Ich bin normal, völlig normal“, lautet einer seiner ersten Sätze und damit auch einer der ersten Sätze des „Tatorts“. Dass er in einem selbstgedrehten Web-Video dann ankündigt, seine entführten Eltern und sich selbst zu töten, ist dann nicht mehr ganz so normal. Auch die folgenden Videos, die er teilweise live über soziale Netzwerke streamt, wirken auf die Ermittler Eisner und Fellner vom Bundeskriminalamt alles andere als gewöhnlich.
In den Videos äußert Frank Kritik am kapitalistischen System, das seine Generation in einen unmenschlichen Wettbewerb um Jobs und Erfolg dränge. Der Student stilisiert den angekündigten Mord zu einer politischen und moralischen Aktion hoch. Frank entstammt einem Freundeskreis, der sich vor Klausuren mit Drogen aufputscht, um den Ansprüchen der Leistungsgesellschaft gerecht zu werden. Und so wird aus der Jagd nach einem mutmaßlichen Entführer und Mörder ein Klassenkampf.
Der Täter mit dem Wunderakku
Auf der einen Seite stehen der scheinbar rationale Frank und die Soziologin Sarah Adler, deren Thesen der Student radikal umsetzt. Seine erfolgreichen Akademiker-Eltern sollen als Symbole der Leistungsgesellschaft sterben. Auf der anderen Seite steht der emotionale Ermittler Moritz Eisner, der mit österreichischem Akzent seine Kollegen vom Staatsschutz gereizt als „Korinthenkacker“ bezeichnet oder die Innenministerin anpflaumt.
Der Blick auf den bis dahin spannenden Klassenkampf wird lediglich durch Kleinigkeiten verstellt. Etwa die Tatsache, dass der Täter seine Video-Streams an einem Notebook bearbeitet, das scheinbar unbegrenzte Akkulaufzeit hat und erst am Ende eines Tages unter Volllast durch eine Autobatterie geladen wird. Doch den Spannungsbogen überspannen schließlich nicht solche Kleinigkeiten, sondern eine Wendung in der Story.
Plötzlich wandelt sich der Film zum Familiendrama
Mit Rückblenden wird dem Zuschauer deutlich gemacht, dass es vordergründig um eine Beziehungs- beziehungsweise Familientat zu gehen scheint. Familiärer und gesellschaftlicher Druck haben nämlich Franks Partnerin in den Suizid getrieben. Er und ein gemeinsamer Mitbewohner des Paares fanden die Tote vor. Dass dieser Mitbewohner wiederum der Freund von Oberstleutnant Eisner ist, zieht die Story noch weiter auf die Ebene eines Familiendramas.
Zum Ende wandelt sich der „Tatort – Schock“ dann vollkommen zu einem gewöhnlichen Krimi mit der Geiselnahme der Ermittlerin Bibi Fellner und der Forscherin Sarah Adler durch David Frank. Die Geiselnahme endet wie im Titel versprochen mit einem Schock: David Frank wird von der Polizei erschossen und spuckt so viel Blut, dass es für den Zuschauer am Ende doch wieder ein ungewöhnlicher „Tatort“ ist.