Hamburg. 71 Flüchtlinge ersticken im August 2015 in einem Schleuser-Lkw. Eine ARD-Doku zeigt nun: Weit mehr Taten gehen auf das Konto der Bande.

Ein Jahr nach dem tragischen Tod von 71 Flüchtlingen, die in einem Kühl-Lkw auf einer Autobahn in Österreich entdeckt wurden, sind nun neue Erkenntnisse zu den Hintergründen der Tat bekannt geworden. Nach Recherchen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung soll dieselbe Schlepperbande für rund 30 weitere Schleuserfahrten verantwortlich sein.

Insgesamt 13 dieser Fahrten hätten einen unmittelbaren Bezug zu Deutschland, bestätigte demnach der Präsident der Bundespolizei, Dieter Romann. Bereits neun Tage vor der Todesfahrt nach Österreich hätten etwa Bundespolizisten in Sachsen einen Lkw entdeckt, dessen Fahrt von demselben Schleusernetzwerk organisiert worden war. Dabei habe es sich ebenfalls um „eine Großschleusung mit 81 Personen“ gehandelt.

Schleuserbandenmitglied äußert sich erstmals zur Tat

Erstmals äußerte sich nun auch ein Mitglied der Bande. Journalisten des NDR, WDR und der Süddeutschen Zeitung erfuhren im Interview mit dem Schleuser, dass die Gruppe anfänglich Lkw mit Planen zum Transport der Menschen genutzt habe. „Aber während der Fahrt haben die Flüchtlinge die Planen oft zerschnitten“, deshalb sei man auf geschlossene Lkw mit Metallaufbau umgestiegen, sagte Ilmaz A., der wegen gewerbs- und bandenmäßigen Schleusens zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt wurde und derzeit in der JVA Bautzen einsitzt.

A. hatte auch den Lkw mit den 81 Menschen nach Sachsen gefahren. Während seiner Fahrt trommelten die verzweifelten Flüchtlinge gegen die Wände des Lkw, berichtete Ilmaz A.: „Als ich das Klopfen hörte, habe ich sofort meinen Chef angerufen. Der hat gesagt, dass ich die Fahrt fortsetzen soll.“

Profit war wichtiger als die Menschenleben

Ermittler berichten zudem, die Bande habe nach schnellen Profiten gestrebt und den enormen Flüchtlingsandrang im vergangenen Jahr genutzt. Das Leben der Geschleusten sei für die Schleuser nebensächlich gewesen. So sollen die Schleuser im Fall des in Österreich entdeckten Lkw zunächst sogar versucht haben, noch deutlich mehr Flüchtlinge in das Fahrzeug zu pressen.

Für die Insassen wurde der Kühllaster zur tödlichen Falle. Spätestens nach drei Stunden, so ergaben die Ermittlungen, waren alle Insassen erstickt. Die Menschen hatten keine Überlebenschancen, auch weil der metallene Kastenaufbau des Lkw keinen Handy-Empfang zuließ. Im Herbst soll nun in Ungarn gegen sechs mutmaßliche Schleuser Anklage erhoben werden.

ARD zeigt Dokumentation über die Opfer der Schleuser

Der Todes-Lkw war am 27. August des vergangenen Jahres in einer Pannenbucht auf der Autobahn 4 nahe Wien aufgefunden worden. Als Ermittler die Tür öffneten, fanden sie auf der Ladefläche insgesamt 71 in sich zusammengesunkene Leichen von Menschen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und Iran. Ein Mann konnte bis heute nicht identifiziert werden. Der Fall hatte international für Schlagzeilen gesorgt.

Das Interview mit Ilmaz A. ist Teil der Dokumentation „Erstickt im Lkw – Das Ende einer Flucht“, die das Schicksal der Opfer und die Machenschaften der Schleuserbande rekonstruiert. Das Erste zeigt den Film in der Reihe „Story im Ersten“ am Montag, 22. August, um 23.30 Uhr. (fmg)